Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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oder mit dem Sandmännchen.«

      Papa schaut betroffen, bringt seinen Rolli in Position und wuchtet sich auf den Küchenstuhl. »Setz dich!«, befiehlt er dann und deutet auf die Bank, auf der ich schon als Kind gesessen habe, um meine Hausaufgaben zu machen. Natürlich hatte ich auch einen Schreibtisch in meinem Zimmer, aber am liebsten kritzelte ich meine ersten Wörter genau hier in mein Heft. Und Mama schaute mit einem prüfenden Blick zu, während sie Kartoffeln schälte oder etwas Leckeres zubereitete.

      »Weißt du, Schatz. Um alles zu verstehen, muss ich ziemlich weit zurückgehen.«

      »Von mir aus bis in die Steinzeit. Hauptsache, die Geschichte ergibt Sinn!« Ich beiße mir auf die Lippen. So patzig sollte meine Antwort gar nicht ausfallen. Vielleicht hat Tim doch recht, dass ich ziemlich auf dem Zahnfleisch gehe …

      »Und ich erzähle dir das nur, weil ich deine Mutter kenne und sicher bin: Du musst das jetzt wissen.« Er atmet tief ein. So, als müsse er Anlauf nehmen.

      »Alles begann mit dem Tag, an dem ich deine Mutter kennengelernt habe. Das ist lange her. Genauer: mehr als 30 Jahre. Aber ich erinnere mich daran so gut wie heute. Es war der 30. November 1989. Genau drei Wochen nach dem Mauerfall. Ein Donnerstag. Ich war in Bad Homburg in der Redaktion. Ziemlich früh, jedenfalls für meine Verhältnisse. Um kurz nach 8 Uhr. Was daran lag, dass ich zeitig wieder weg wollte, weil ich am Abend eine Verabredung hatte. Mit einer Kollegin. Johanna.«

      »Papa. Bitte. Nicht wieder abschweifen!«

      »Ist ja schon gut. Auf jeden Fall hat es so um halb neun einen unglaublichen Knall gegeben. Ich wusste gleich: Da ist etwas explodiert. Irgendetwas Großes. Ich dachte erst, das war am Bahnhof, aber keine Wolke am Himmel. In die Richtung konnte ich ja gucken.«

      »Das heißt, das war in der alten Redaktion?«

      »Ja, genau und – weißt du – das hat so gescheppert, da haben die Scheiben vibriert. Und ich habe nur gedacht: Das ist jetzt die Geschichte deines Lebens. Aber vom Fenster aus war nichts zu sehen. Bis zum Karstadt runter – nichts. Also habe ich meine Jacke geschnappt und bin los. Die Louisenstraße entlang Richtung Europakreisel. Und überall standen Menschengruppen, haben diskutiert und gestikuliert und in alle möglichen Himmelsrichtungen gezeigt. Aber Genaueres wusste offensichtlich niemand. Also: Ich immer weiter. Hab gedacht: Vielleicht ist bei Fresenius irgendetwas in die Luft geflogen. Oder ein Tanklastzug hatte am Kreuz einen Unfall und ist explodiert.«

      »Und dann?«

      »Dann sind die ersten Blaulichter aufgetaucht. Am Europakreisel vorbei Richtung Kaiser-Friedrich-Promenade. Und ich dachte noch: Wow. Hat es etwa die Taunus Therme erwischt? Und da ist mir deine Mutter in die Arme gelaufen. An der Tankstelle am Kreisel. Mit Schmackes. Sie hat sich im Laufen herumgedreht, und ich hatte wirklich keine Chance mehr auszuweichen.«

      Wieder schaut Papa durchs Fenster in den Garten zur alten Weide und mir wird inzwischen klar: Nein, da draußen im Garten sucht er definitiv nicht nach verborgenen Eintracht-Erinnerungen …

      »Blödmann! Kannst du nicht aufpassen – hat sie mich angeschnauzt. Und ich war sofort verliebt. In ihren Blondschopf. Ihre wunderschönen blauen Augen. Dieses freche Mundwerk mit leichtem Berliner Akzent. Sofort.«

      »Papa. Komm doch mal zum Punkt. Bitte.«

      Keine geschmackvolle Unterbrechung. Das kann ich sofort an seinem Gesicht sehen. Und eigentlich tut es mir auch schon wieder leid. Warum kann ich mein Mundwerk nicht einfach mal halten?

      »Ach, Kind. Wie wäre es denn, wenn du mal aufhören würdest, davon auszugehen, dass du allein darunter zu leiden hattest, dass sie gegangen ist, und mich mal kurz in Erinnerungen schweifen lässt?«

      Ich schwanke. Verstehe, dass er ebenfalls emotional angeschlagen ist. Trotzdem: Tief in mir begehrt etwas auf, aber ich entscheide, nichts zu sagen.

      »Sie hatte merkwürdige rote Sprenkel im Gesicht und auf ihrem Pullover, und ich habe sofort gedacht: die Bombe! Ohne, dass ich überhaupt wusste, dass da eine Bombe explodiert war. Hat sie am Ende etwas damit zu tun? Aber zwei Augenaufschläge später hat sich keiner mehr für die Bombe interessiert. Jedenfalls sie nicht und ich auch nicht.«

      »Ja, Hedwig Courths-Mahler lässt grüßen. Sie hätte eure Liebesgeschichte nicht schöner beschreiben können. Und dann seid ihr wahrscheinlich in den Kurpark und habt – oh Gott, ich will es gar nicht wissen – und am Ende kam ich dabei heraus. Aber das hilft mir gerade nicht wirklich weiter. Warum ist sie nach 15 Jahren gegangen und wovor will sie mich jetzt warnen?«

      »Alles war gut. Die roten Spritzer waren kein Blut, sondern Kirschsaft. Die Flasche war ihr aus der Hand geglitten, als die Bombe am Seedammbad hochgegangen ist. Sie war zufällig gerade da, als das Attentat verübt wurde und Herrhausen gestorben ist. Wie das Schicksal eben manchmal spielt: Nah genug, um das Glas mit dem Kirschsaft vor Schreck fallen zu lassen, weit genug entfernt, um ohne Verletzungen davonzukommen.«

      Mit einem kurzen Kopfschütteln beamt sich Papa zurück, wie er es so schön nennt. Typisch Generation Star Trek.

      »Ich habe ihr dann meine Jacke übergehängt und sie zu Michael ins Petit Café gebracht. Sie brauchte offenkundig einen starken Kaffee. Besser noch einen Schnaps, aber dafür war es einfach zu früh.«

      »Papa!«

      »Ist ja gut. Auf jeden Fall war sie erst zwei Tage vorher mit ihrem alten Trabi aus der DDR gekommen, um den kapitalistischen Westen mal genauer zu begutachten, wie sie meinte. Geschlafen hat sie in der Jugendherberge und eigentlich wollte sie mit der Bahn nach Frankfurt, hatte sich aber verlaufen.«

      »Papa! Geht es ein bisschen knapper?«

      »Knapper? Sie haben ein Kind gezeugt, geheiratet und lebten glücklich und zufrieden in einem kleinen Häuschen in Zeilsheim … knapp genug?«

      »So knapp nun auch wieder nicht.«

      »Doch, das passt schon. Ich habe nicht viel gefragt, und sie mochte nicht viel aus den alten Zeiten erzählen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es gab keine Geschwister oder sonst jemanden. Und ihr Studium hatte sie nach dem Unfall der Eltern geschmissen. Die Zeichen standen wie im ganzen Osten auf Neuanfang. Hier. Bei mir.«

      »Aber wie können zwei Menschen, die sich so aufeinander eingelassen haben, plötzlich auseinandergehen. Das passt doch gar nicht!«

      »Es war alles gut, bis zu einem Sonntagmorgen im Oktober 2002. Da stand plötzlich ein Kerl vor unserer Haustür. Johannes Grahms. Sagte, er sei ein alter Bekannter deiner Mutter. Aus DDR-Zeiten. Wolle mal Erinnerungen auffrischen. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl und deine Mutter ist kreidebleich geworden, als sie ihn sah.«

      »Warum hast du ihn nicht einfach vor die Tür gesetzt?«

      »Wollte ich ja, aber deine Mutter hat mich nicht gelassen. Und dann haben sich die beiden in den Garten verzogen und vielleicht eine halbe Stunde lang miteinander gesprochen. Deine Mutter war ziemlich aufgebracht. Sie hat ihn dann zur Tür gezerrt und ihm gesagt, dass sie sich bei ihm melden wird. Danach hat sie zwei Tage lang erst mal gar nichts gesagt und mir dann ihre wahre Geschichte erzählt.«

      »Ihre wahre Geschichte?«

      »Ja, Kind: Deine Mutter ist nicht in der ehemaligen DDR aufgewachsen, sondern in Hamburg. Sie hat weder ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren noch jemals ihr Studium beendet. Dafür hatte sie Mitte der 70er Jahre keine Zeit. Sie wurde 1973 als Hausbesetzerin verhaftet und von den Polizisten bei dieser Aktion ziemlich gedemütigt. Sie haben ihr wohl sogar an die Brüste gepackt. Was sie dazu brachte, sich – kaum wieder auf freiem Fuß – mit Mitgliedern der sogenannten Komitees gegen Folter zu treffen.«

      Jetzt war es an mir, fassungslos aus dem Fenster zu starren. Ich bin erst weit danach geboren, aber ein bisschen was aus dieser Zeit ist mir durchaus bekannt. Ganz abgesehen davon, habe ich gerade erst den Film der ›Deutsche Herbst‹ gesehen, und Stuttgart-Stammheim als Symbolstätte der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF schlechthin bei einer Klassenfahrt besucht. Ich weiß: Die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und der Versuch, die inhaftierten RAF-Terroristen