Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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Jahr in Corona-Zeiten – gut. Weltweit – auch gut, aber da kann man doch völlig gefahrlos telefonieren. Oder nicht?«

      »Ach, Mäuschen! Wenn das alles so einfach wäre.«

      »Sicher einfacher, als seinen Koffer zu packen und sich auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. Weißt du was, Mama: Leck mich!«

      Das hat gesessen. Zumindest herrscht jetzt Stille am anderen Ende der Leitung. Vielleicht, weil diese Art Gefühlsausbruch so gar nicht zu mir zu passen scheint. Ich bin selbst überrascht. Leck mich … ? Aber – was soll’s. Ihre Sprachlosigkeit gibt mir Gelegenheit, ein bisschen auszuholen: »Weißt du, es kann ja sein, dass dich Papa mit seiner Eintracht nur noch genervt hat. Aber was war denn mit mir?«

      »Hat es dir Papa nicht gesagt?« Mit sechs Wörtern bringt sie mich wieder aus dem Konzept.

      »Was hat mir Papa nicht gesagt?«

      Es ist alles so irreal. So völlig aberwitzig. Ich habe die Stimme meiner Mutter beim ersten Ton wiedererkannt. Sie war so vertraut. So völlig vertraut. Als wäre sie niemals weg gewesen. Als wäre da nicht mehr als ein Jahr vergangen, dass ich sie zum letzten Mal am Telefon gehört habe. Und gleichzeitig klang dieses ›Ach Mäuschen‹ so fremd. So entfernt. So schuldig. Eine Träne kullert meine Backe hinunter zu meinem Mundwinkel. Sie schmeckt salzig. Salziger als normal, habe ich das Gefühl.

      »Warum ich gegangen bin. Hat Papa es dir nicht gesagt?«

      »Nein. Papa hat nicht ein Wort dazu verloren. Er ist damals in seinem Kabuff verschwunden und erst nach vielen Stunden wieder aufgetaucht. Gesagt hat er nichts. Was hätte er denn auch sagen sollen? Dass er dich mit seiner allumfassenden Eintracht-Liebe letztlich fortgetrieben hat? Und dass dir dabei dein Kind völlig egal war? Mama! Hätte er mir das sagen sollen?«

      »Ich kann dir nicht sagen, was er hätte machen sollen. Es war seine Entscheidung.«

      Und wieder bollert das Blut durch meine Halsschlagader. »Seine Entscheidung!«, brülle ich wie nach dem 5:2 gegen die Bayern letztes Jahr: »Seine Entscheidung! Ich fürchte, du bringst da ein bisschen was durcheinander.«

      »Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu streiten. Du musst mir einfach vertrauen. Wo bist du gerade? Im Stadion? Am Riederwald? In Kronberg?«

      »Vor Papas Haustür.« Ich versuche, die Worte Papas Haustür möglichst lang zu ziehen. Jeder Buchstabe soll sie daran erinnern, was sie aufgegeben hat. Dass sie mich aufgegeben hat. Schmierentheater, ich weiß, aber das ist mir in diesem Moment egal. Seit vergangenem Mittwoch haben wir wieder einen Lockdown und ich noch immer nicht alle Weihnachtsgeschenke. Leider haben aber keine Geschäfte mehr auf. Also muss ich Gutscheine schreiben und mir irgendwelche Kleinigkeiten einfallen lassen. Außerdem ist heute eine Mini-Weihnachtsfeier bei der Eintracht, zu der ich eigentlich nicht will, weil ich Heiligabend mit Papa verbringen möchte und Angst habe, mich bei dieser Feier anzustecken und ihn dann gleich mit. Er gehört mit seinem scheiß Schlaganfall auch noch zur Risikogruppe. Und weil ich auf Nummer sicher gehen will, werde ich nicht zu dieser Feier gehen und zusätzlich noch einen Test machen. Außerdem hat sich Sev heute abgemeldet, weil er mit seinen ›Buddys‹ aus dem Greifvogel natürlich den Todestag von Mic begehen möchte. Ohne mich. Was ja okay ist, wenn ich nicht genau wüsste, dass er vor Sonntag wahrscheinlich kein Lebenzeichen mehr von sich geben wird. Was mir eigentlich ganz egal sein könnte – wir sind ja schließlich kein Paar –, was mir aber eben verflucht nochmal nicht egal ist. Ich sag’s mal so: Es ist einfach alles wirklich sehr, sehr, sehr viel. Und dann ruft mich meine Ex-Mutter an und will mich vor was auch immer warnen. Mal ehrlich. Fröhliche Weihnachten fühlt sich dann doch irgendwie anders an.

      Ich spüre, wie die Galle in meiner Speiseröhre Zentimeter für Zentimeter nach oben klettert.

      »Kannst du jetzt bitte einfach tun, was ich sage?«

      Wieder so ein Schlüsselwort, das mich innerlich verbluten lässt. Mama meldet sich nach Monaten und wenn ich nicht spure, setzt es Stubenarrest, oder was? Ja, wo sind wir denn?

      Es fällt mir schwer, mich zu beherrschen. »Aus welchem fernen Land rufst du eigentlich an?« Sarkastischer hätte nicht einmal Böhmermann diese Frage betonen können.

      »Aus Afghanistan! Könntest du mir vielleicht zehn Minuten gönnen?«

      Ihr Ton erinnert mich an die Mama, die ich erleben durfte, als ich Kläuschen von nebenan ein blaues Auge verpasst hatte, weil er gesagt hat, die Bayern wären viel besser als die Eintracht. Da war ich sieben und er hatte wahrscheinlich sogar recht. Aber das war mir egal. Ich hätte niemandem erlaubt, so etwas ungestraft zu sagen. Klaus schon gar nicht. Der wollte schließlich mein Freund sein. Und Mama hat mir dann für das blaue Auge in aller Schärfe zwei Wochen Hausarrest aufgebrummt. Was unter dem Strich betrachtet auch pädagogisch nicht wirklich wertvoll war. Zwei Wochen lang hatte ich schließlich keine Gelegenheit, mich mit Kläuschen zu versöhnen. Aber bei Mama gab es da kein Pardon. Und schwups – ein Satz in dieser Tonart reichte, schon stand die kleine Lydia wieder vor ihr. Das funktionierte selbst aus 5.000 Kilometer Entfernung.

      »Geh rein zu Papa. Kannst du das für mich tun, bitte!«

      Eigentlich hätte ein Fragezeichen ans Satzende platziert werden müssen, aber ich höre nur ein Ausrufezeichen. Und dann dieses Geräusch, das ein Telefon von sich gibt, wenn der Gesprächspartner am Ende der Leitung aufgelegt hat.

      Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich das Handy von meinem Ohr nehmen kann. Hunderttausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Ungeordnet, zusammenhanglos, chaotisch. War das tatsächlich meine Mutter, mit der ich eben telefoniert habe? Oder hat mir mein Kleinhirn einen bitterbösen Streich gespielt? Morgen ist schließlich Weihnachten. Da kann sich das Unterbewusstsein schon mal dazu aufraffen, seltsame Geschichten zu produzieren. Es gab Zeiten, da habe ich sogar ans Christkind geglaubt. Und an den Osterhasen.

      Mit aller Macht versuche ich, mir diesen blödsinnigen Gedanken aus dem Kopf zu schütteln und blicke nach oben. Direkt in zwei rehbraune Augen. Und wieder knallt mein Puls auf weit über 100. Diesmal ist es nur der Schreck. »Was um Himmels willen!«

      »Lydia? Bist du das? Was sitzt du denn hier auf dem Bürgersteig herum? Auch wenn wir heute noch 11 Grad haben, was ja am 23. Dezember nicht wirklich kalt ist, willst du ja wohl Weihnachten nicht mit einer Erkältung im Bett liegen?«

      Ich schwenke meinen Blick von den beiden rehbraunen Augen knapp zwei Meter nach oben und blicke fassungslos in die Augen von Eric Presfeth.

      »Eric? Du? Was …«

      Der Lange grinst und streckt mir seine Hand entgegen. »Frau Vizepräsidentin! Würden Sie mal Ihren Hintern von der Straße heben. Als meine Stellvertreterin kann ich doch wohl ein wenig Contenance einfordern. Auch wenn Sie am Telefon sicherlich gerade erfahren haben, dass ich nächstes Jahr nicht nur auf 3.000 Großflächenplakaten für die Meinungsfreiheit eintreten werde, sondern auch nächstes Jahr so wie es aussieht in Oberursel vom Hochtaunuskreis einen Sonderpreis für das Engagement gegen Rassismus und für Vielfalt und Integration erhalten werde, gibt es keinen Grund, vor mir auf den Knien herumzurutschen.«

      »Eric. Scheiße. Nein. Sorry. Glückwunsch! Zu den Plakaten und zu diesem Preis.«

      Irgendwie scheint mein Kopf nicht mehr wie üblich zu funktionieren. Ich starre abwechselnd den Präsi und Country, seine englische Bulldogge, an. Die beiden Gesichter ähneln sich immer mehr, finde ich, und muss lachen.

      »Immerhin. Lydia Heller. Du kannst schon wieder lachen«, grinst Eric Presfeth gut gelaunt zurück. Aber das hält nicht lange an. Schon klingt er besorgt: »Was war denn nun wirklich? Brauchst du einen Arzt?«

      Um gleich wieder in seine hemmungslos humorige Art zurückzufallen: »Corona? Oder wartest du hier immer, bis die Gäste deines Vaters das Haus verlassen haben. Damit keiner merkt, dass du wieder bei ihm wohnst? Mit 30!«

      »Ach, Eric. Nein. Meine Mutter hat mich gerade angerufen. Du weißt, dass sie das nicht sehr häufig tut. Das hat mich ein wenig aus der Rolle gebracht.«

      Ich weiß, dass ich ihm das sagen kann. Er war schließlich auch mit ihr befreundet. Nicht