cc) Prüfungskriterien
149
Der Staatsrat überprüft die angegriffene Verwaltungsmaßnahme auf seine Rechtmäßigkeit. Dabei kann die formelle von der materiellen Rechtsmäßigkeitsprüfung unterschieden werden
150
Die angegriffene Maßnahme ist formell rechtmäßig, wenn die Behörde für diese zuständig war und dabei die durch Gesetz oder Rechtsverordnung vorgeschriebenen Formvorschriften, deren Verletzung zur Nichtigkeit der Maßnahme führt, eingehalten wurden.[359] Die Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit erstreckt sich zum einen auf Verstöße gegen die von Art. 14bis Abs. 1 KGSR als wesentlich angesehenen formalen Voraussetzungen, wie die Pflichten „zur Abstimmung, zur Einbeziehung und zur Übermittlung von Informationen, zur Einholung von Stellungnahmen und Vereinbarungen und zur Würdigung von gleichlautenden Stellungnahmen und gemeinsamen Vereinbarungen“ (concertations; associations, transmissions d’informations, avis, avis conformes, accords, accords communs)[360], und zum anderen auf sonstige Verstöße, die als so schwerwiegend betrachtet werden, dass sie eine Nichtigkeitserklärung der Maßnahme rechtfertigen. Eine wesentliche Formvorschrift ist etwa die Pflicht der Regierung, vor der Ausarbeitung einer Rechtsverordnung ein Gutachten der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates einzuholen, da „die Einholung eines Gutachtens des Staatsrates auf die Erwägung des Verfassungsgebers zurückzuführen ist, den Rechtsstaat zu schützen und die inhaltliche und formale Qualität der Gesetze und damit die Rechtssicherheit zu wahren; […] ein Verstoß gegen diese Formvorschrift ist [somit] von Amts wegen zu prüfen.“[361] Allerdings bestimmt Art. 14bis Abs. 2 KGSR, dass „natürliche und juristische Personen, mit Ausnahme des Staates, der Gemeinschaften, der Regionen und der Gemeinsamen Gemeinschaftskommission die Verletzung der [in Abs. 1] erwähnten Formvorschriften nicht geltend machen“ können.
151
Die materielle Rechtmäßigkeitsprüfung bezieht sich dagegen auf die inhaltliche Begründung der Verwaltungsmaßnahme. Eine Maßnahme ist materiell rechtswidrig, wenn sie inhaltlich gegen eine höherrangige Norm verstößt. Darunter fällt auch ein offensichtlicher Beurteilungsfehler.[362]
152
Eine Nichtigkeitserklärung ist grundsätzlich einfacher aufgrund formeller Rechtswidrigkeit zu erwirken als wegen materieller Rechtswidrigkeit, da letztgenannte eine inhaltliche Prüfung der von der Behörde im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums vorgenommenen Würdigung des Sachverhalts erfordert. Aufgrund dieses behördlichen Spielraums ist die Kontrolldichte in einem solchen Fall erheblich geringer.[363]
aa) Entscheidungsarten
153
Im Rahmen eines Aussetzungsantrags kann die Aussetzung des Vollzugs der angegriffenen Maßnahme für die Zukunft beantragt werden.[364]
154
Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage[365] kann der Staatsrat die angegriffene Verwaltungsmaßnahme aufheben. Er kann ferner, sofern dies möglich ist, einen rechtswidrigen Teil der Maßnahme abtrennen und nur diesen für nichtig erklären. In einem solchen Fall ist das Urteil eher als eine „Abänderung“ der Maßnahme anzusehen. Bestand die Rechtswidrigkeit lediglich in der Nichteinhaltung einer Formvorschrift, sah Art. 38 KGSR in Folge der Reform von 2014 ursprünglich die Möglichkeit vor, diesbezüglich ein Zwischenurteil zu treffen. In diesem konnte die Verwaltung aufgefordert werden, die angegriffene Maßnahme so abzuändern, dass sie den formalen Anforderungen genügte. Das Zwischenurteil gab hierbei sowohl die erforderlichen Änderungen als auch eine Frist vor, in der diese vorzunehmen waren. Damit wurde ein aus den Niederlanden bekanntes Heilungsverfahren aufgegriffen, das im Französischen als „boucle administrative“ (wörtlich: „Verwaltungsschleife“) bezeichnet wird (auf Niederländisch: „bestuurlijke lus“). Die parlamentarischen Unterlagen führten näher aus, dass „[d]as Zwischenurteil […] so genau wie möglich auf[zeigt], auf welche Art und Weise der Verstoß zu heilen ist. In diesem Fall teilt die betroffene Behörde dem Verwaltungsrichter umgehend mit, ob sie die Möglichkeit, den besagten Verstoß zu heilen oder heilen zu lassen, wahrzunehmen gedenkt. […] Das abschließende Urteil zu der ursprünglichen Klage ergeht anschließend gegen die fehlerhafte und im weiteren Verlauf berichtigte (oder nicht berichtigte) Verwaltungsmaßnahme.“[366] Die „boucle administrative“ fand keine Anwendung, wenn der Formfehler nicht binnen einer Frist von drei Monaten behoben werden konnte (es sei denn, die Behörde wies nach, dass eine solche Behebung binnen einer angemessenen Frist erfolgen konnte), wenn die (eigene) Entscheidungsbefugnis der beklagten Behörde für die Heilung nicht ausreichte, wenn die beklagte Behörde ausdrücklich die Anwendung des Heilungsverfahrens ablehnte oder wenn die Heilung der betroffenen Verwaltungsmaßnahme für einen Abschluss des laufenden Gerichtsverfahrens ohnehin nicht genügte. Bei erfolgreicher Heilung der Verwaltungsmaßnahme durch die Behörde wurde die Nichtigkeitsklage abgewiesen, da die Verwaltungsmaßnahme nunmehr mit rückwirkender Wirkung als gesetzeskonform galt. Mit Urteil vom 8. Mai 2014 hat der Verfassungsgerichtshof das Heilungsverfahren, das im Rahmen der Klagen vor dem „Rat für Genehmigungsstreitsachen“ (einem vom flämischen Raumordnungsgesetzbuch geschaffenen flämischen Verwaltungsgericht) vorgesehen war, für verfassungswidrig erklärt.[367] Zur selben Schlussfolgerung kam der Verfassungsgerichtshof auch in seinem Urteil vom 16. Juli 2015 zum Heilungsverfahren auf Bundesebene im Rahmen der Nichtigkeitsklage vor dem Staatsrat:[368] Ein solches Heilungsverfahren verstoße gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit sowie den Grundsatz der Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Richters und damit gegen Grundsätze, die nach der Auffassung des Verfassungsgerichtshofes gemeinsam mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung „das Grundwesen des Rechtsstaates“ ausmachen.
bb) Möglichkeiten der Beurteilung der vom Kläger vorgebrachten Klagegründe
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Der Staatsrat kann die vom Kläger vorgebrachten Klagegründe für zulässig oder unzulässig erklären.[369] Im letztgenannten Fall ist der Klagegrund entweder in tatsächlicher Hinsicht unbegründet, weil er auf einer irrtümlichen Annahme in Bezug auf den Sachverhalt[370] oder einer nicht nachgewiesenen Behauptung[371]