cc) Der Aussetzungsantrag
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Dieses Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes soll verhindern, dass eine rechtswidrige Verwaltungsmaßnahme in tatsächlicher Hinsicht auch nach dessen Nichtigkeitserklärung nach wie vor Folgen zeitigt. Gemäß Art. 17 § 1 KGSR ist „[e]inzig die Verwaltungsstreitsachenabteilung […] dafür zuständig, nach Anhörung oder ordnungsgemäßer Ladung der Parteien durch Beschluss die Aussetzung des Vollzugs von Verwaltungsmaßnahmen oder Verordnungen anzuordnen, die auf der Grundlage von Art. 14 §§ 1 und 3 für nichtig erklärt werden können, und alle Maßnahmen zu treffen, die zur Wahrung der Interessen der Parteien bzw. der Personen, die ein Interesse an der endgültigen Klärung der Streitsache haben, notwendig sind“. Damit kann die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme, über deren Nichtigkeit sie zu befinden hat, aussetzen. Ein entsprechender Aussetzungsantrag kann jederzeit eingereicht werden. Allerdings muss er sich auf eine anhängige Nichtigkeitsklage beziehen, andernfalls ist er unzulässig.[295] Somit ist der Aussetzungsantrag ein Verfahren, das „akzessorisch zur Nichtigkeitsklage“[296] ist. Sofern die Voraussetzungen hierfür erfüllt sind und solange der Bericht des Auditorats noch nicht vorliegt, kann der Kläger im Zuge einer Nichtigkeitsklage auch mehrere Aussetzungsanträge stellen (Art. 17 § 1 Abs. 3 KGSR). Die Anordnung der Aussetzung des Vollzugs geschieht nur bei besonderer Dringlichkeit und nur, sofern mindestens ein ernsthafter Grund geltend gemacht wird, der dem ersten Anschein nach eine Erklärung der Nichtigkeit der angegriffenen Maßnahme rechtfertigen könnte. Es muss also ein Klagegrund vorgetragen werden, aus dem „augenscheinlich hervorgeht, dass erhebliche Zweifel an der Rechtsgültigkeit des angegriffenen Aktes bestehen, und der nach summarischer Prüfung für die Begründetheit der Klage spricht“[297]. Neben der Aussetzung der Verwaltungsmaßnahme können weitere einstweilige Maßnahmen angeordnet werden. Darüber hinaus ist zu deren Durchsetzung auch die Festsetzung eines Zwangsgeldes möglich.
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Der Begriff „Aussetzungsantrag“ impliziert bereits, dass eine Aussetzung des Vollzugs nur auf Antrag des Klägers erfolgen kann. Ist ein solcher Antrag gestellt, wägt der Staatsrat zwischen dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers, den Interessen der Verwaltung und dem Interesse der Allgemeinheit ab. Gemäß Art. 17 § 2 Abs. 2 KGSR berücksichtigt „[d]ie Verwaltungsstreitsachenabteilung […] die voraussehbaren Folgen der Aussetzung der Durchführung [der Verwaltungsmaßnahme] oder der vorläufigen Maßnahmen hinsichtlich jeglicher möglicherweise geschädigten Interessen, einschließlich des Interesses der Allgemeinheit“. Sie „kann entscheiden, dem Antrag auf Aussetzung oder auf Anordnung vorläufiger Maßnahmen nicht stattzugeben, wenn deren nachteilige Folgen die damit verbundenen Vorteile in offensichtlich unverhältnismäßiger Weise überwiegen könnten“.
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Der Beschluss des Staatsrates über den Aussetzungsantrag hat binnen einer Frist von 45 Tagen zu erfolgen, das Urteil zur Nichtigkeitsklage anschließend innerhalb von sechs Monaten zu ergehen. Allerdings bleibt die Aussetzung der Verwaltungsmaßnahme auch nach diesen sechs Monaten bestehen, es existiert keinerlei Sanktionsmechanismus bei Überschreiten dieser Frist.
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Gemäß Art. 17 § 4 KGSR[298] ist ein Aussetzungsantrag im Fall höchster Dringlichkeit auch schon vor Erhebung der Nichtigkeitsklage zulässig. Hierfür muss die höchste Dringlichkeit jedoch durch eine umfassende Schilderung des Sachverhalts nachgewiesen werden.[299] Dadurch kann zwar gegebenenfalls eine sehr schnelle Entscheidung des Staatsrates herbeigeführt werden. Da die Rechte der beklagten Partei hierdurch aber be- und die Untersuchung des Falls stark eingeschränkt werden, muss dies eine Ausnahme bleiben.[300] In einem solchen Fall wird die Aussetzung des Vollzugs wieder aufgehoben, wenn binnen der hierfür vorgesehenen Frist keine Nichtigkeitsklage erhoben wird.
dd) Das Revisionsverfahren
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Gemäß Art. 14 KGSR ist der Staatsrat darüber hinaus zuständig für die Behandlung von Revisionsanträgen gegen Urteile der untergeordneten Gerichte.[301] Den rechtlichen Rahmen hierfür bilden Art. 20 KGSR sowie Art. 3 und 11 des königlichen Erlasses vom 30. November 2006[302]. Dabei ist vor allem wichtig, welche Gerichte Verwaltungsgerichte sind, etwa das Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen.
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Auch für dieses Verfahren bedarf der prozessfähige[303] Kläger eines Rechtsschutzinteresses. Der Revisionsantrag muss innerhalb einer Frist von 30 (und nicht – wie bei der Nichtigkeitsklage – 60[304]) Tagen eingereicht werden. Diese beginnt an dem auf die Zustellung des Urteils beim Revisionsführer folgenden Tag (Art. 30 § 1 Abs. 4 des königlichen Erlasses vom 30. November 2006). Im Rahmen des Revisionsverfahrens erfolgt eine dreiteilige Prüfung:[305] die Zulässigkeit der Revisionseinlegung, das Vorliegen eines Revisionsgrundes und gegebenenfalls noch die Prüfung der „Auffangklausel“, sollte sich gem. Art. 20 KGSR eine Prüfung durch die Verwaltungsstreitsachenabteilung für die Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsprechung als notwendig erweisen. Ein Annahmeverfahren ermöglicht eine Vorprüfung und -sortierung der Revisionsanträge.[306]
ee) Verfahren mit unbeschränkter Nachprüfungsmöglichkeit
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In den in Art. 16 KGSR bestimmten Fällen kann die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen als letztinstanzliches Rechtsmittel die angegriffene Entscheidung durch Urteil durch eine andere ersetzen. Hierzu zählen Wahlprüfungsangelegenheiten (insbesondere bei Provinzial- und Gemeindewahlen, Wahlen in Bezug auf öffentliche Sozialhilfezentren und Wahlen zu den Räten des Polizeidienstes), Streitigkeiten betreffend die Bestimmung der kommunalen Mandatsträger bestimmter Gemeinden mit Sonderrechten, Beschwerden nach Art. 15ter des Gesetzes vom 4. Juli 1989 über die Deckelung und die Überprüfung der Wahlkampfausgaben im Rahmen der Wahlen zu den Kammern des Bundesparlaments sowie Beschwerden in Bezug auf die Parteienfinanzierung und die offene Haushaltsrechnung der politischen Parteien.[307]
aa) Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit
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Die Mitglieder der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen werden vom König auf Lebenszeit ernannt und genießen praktisch dieselbe Unabhängigkeit wie Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit[308] (Art. 151 § 1 Belg. Verf.). Unabhängigkeit und Unparteilichkeit bilden die grundlegendsten Wesensmerkmale des Richteramtes und werden im Übrigen auch durch Art. 6 EMRK vorausgesetzt. Beim Staatsrat besteht dabei allerdings die Besonderheit, dass er sowohl beratendes als auch rechtsprechendes Organ ist. Der EGMR beschäftigte sich bereits mehrmals mit der Frage, ob ein solches Organ mit Doppelfunktion den Anforderungen an die objektive Unparteilichkeit des Richters genügt.[309] Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofes folgt aus der Rechtsprechung des EGMR, dass allein die Tatsache, dass ein Organ sowohl eine beratende als auch eine rechtsprechende Funktion besitzt, noch nicht die Prinzipien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters verletzt.[310] Dies wird dadurch unterstrichen, dass die Mitglieder der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen gem. Art. 61 VVerwSSRE und Art. 29 Abs. 2 KGSR in Verfahren über Nichtigkeitsklagen gegen Erlasse oder Rechtsverordnungen, zu denen sie bereits zuvor im Rahmen des Verfahrens vor der Gesetzgebungsabteilung ein Gutachten erstellt haben, nicht entscheidungsbefugt sind.
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Darüber hinaus hat ein Mitglied der Abteilung für Verwaltungsstreitsachen oder des Auditorats der Kammer oder dem Generalauditor gem. Art. 62 Abs. 2 VVerwSSRE anzuzeigen, wenn er Kenntnis von Gründen hat, die in Bezug auf seine Person die Besorgnis der Befangenheit begründen können. Es obliegt dann der betroffenen Kammer bzw. dem Generalauditor,