§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum
V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im
europäischen Rechtsraum
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 1. Allgemeine Anmerkungen
1. Allgemeine Anmerkungen
168
Alle belgischen Gerichte, also sowohl die ordentlichen Gerichte als auch die Verwaltungsgerichte, haben die Möglichkeit, im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH oder dem Benelux-Gerichtshof eine Frage vorzulegen. Auf diese Weise wurde die Arbeitsweise der belgischen Verwaltungsgerichte in der Vergangenheit durch den europäischen Grundrechtsschutz maßgeblich beeinflusst. Weitere wesentliche Impulse haben sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben, da auch Urteile des Staatsrates einer Überprüfung durch den EGMR im Verfahren der Individualbeschwerde unterworfen werden können.[399] Dies zeigt sich u.a. darin, dass die ursprüngliche Unterscheidung zwischen bürgerlichen und politischen Rechten unerheblich ist, sofern es um die Würdigung eines zivilrechtlichen Anspruchs i.S.v. Art. 6 EMRK geht.[400]
169
Das Unionsrecht wirkte auch auf Aufbau und Arbeitsweise der belgischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ein. Dies ist in einigen Bereichen besonders spürbar. So wurde etwa im Bereich des Vergaberechts durch europäisches Sekundärrecht die Schaffung besonderer Rechtsmittelverfahren vorgeschrieben. Ferner wurde mit der Einrichtung des Gerichts für Ausländerrechtsstreitsachen die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft umgesetzt.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; Verhältnis der Verfassung zum Unionsrecht
2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; Verhältnis der Verfassung
zum Unionsrecht
170
Die unionsrechtlichen allgemeinen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind eng mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz verknüpft. Nach dem Äquivalenzgrundsatz müssen Verstöße gegen das Unionsrecht inhaltlich und verfahrensrechtlich in gleicher oder gleichwertiger Weise geahndet werden können wie Verletzungen vergleichbarer nationaler Normen. Das Effektivitätsprinzip verlangt darüber hinaus, dass die Mitgliedstaaten einen effektiven gerichtlichen Schutz eines dem Einzelnen durch Unionsrecht zuerkannten Rechts ermöglichen. Die Wirksamkeit des Unionsrechts wird zusätzlich durch die Entwicklung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung,[401] des Vorrangs, der Einheit und der Effektivität[402] in der Rechtsprechung des EuGH gewährleistet.
171
Auswirkungen des Unionsrechts zeigen sich in immer mehr belgischen Gesetzen und Verordnungen unterschiedlicher Bereiche. Auch die belgische Verwaltungsgerichtsbarkeit wendet daher zunehmend Europarecht sowie auch Völkerrecht an. Dabei gewährleistet die belgische Rechtsprechung das Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Recht sowie die besondere Stellung des Unionsrechts im Normengefüge. Bezüglich der Reichweite dieser besonderen Stellung bestehen zwischen Kassationshof und Verfassungsgerichtshof jedoch unterschiedliche Ansichten: 1971 hat der Kassationshof mit seinem Le Ski-Urteil seine bisherige Rechtsprechung, die eher von einer dualistischen Auffassung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht geprägt war, zugunsten eines monistischen Ansatzes aufgegeben. In diesem Urteil entschied der Kassationshof, dass im Falle einer Kollision zwischen einer unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vorschrift und einer innerstaatlichen Vorschrift der völkerrechtlichen Regelung Vorrang zukommt.[403] Dieser Vorrang des Völkerrechts ergibt sich nach Auffassung des Kassationshofes bereits aus dem „Wesen des Völkervertragsrechts selbst“.[404] Mit dieser Rechtsprechung wurde klargestellt, dass die Gerichte dem Vorrang des Völkerrechts Geltung zu verschaffen haben, indem sie im Konfliktfall ein später verabschiedetes, aber mit einer völkerrechtlichen Norm unvereinbares (nationales) Gesetz nicht anwenden dürfen.[405] Der Kassationshof verfolgt so den Grundsatz des Vorrangs des Völker- und des Europarechts vor dem nationalen Recht, zumindest dann, wenn das internationale Recht innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist. Durch Urteil vom 16. November 2004 hat er seine Auffassung von der umfassenden Vorrangstellung des Völkerrechts noch einmal bekräftigt und betont, dass ein „völkerrechtlicher Vertrag, der unmittelbare Wirkung entfaltet, Vorrang [auch] vor der Verfassung“ habe.[406] Der Verfassungsgerichtshof vertritt hingegen die Auffassung, dass keine Bestimmung der Verfassung Belgien erlaube, verfassungswidrige Verträge und Abkommen abzuschließen. Deshalb sieht er sich für zuständig, in einer Nichtigkeitsklage oder nach Vorlage in einem Vorabentscheidungsverfahren ein Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag für nichtig oder für verfassungswidrig zu erklären, wenn der besagte Vertrag Bestimmungen enthält, die mit der Verfassung unvereinbar sind.[407]
172
Auch der Staatsrat hat zur Frage des Verhältnisses von nationalem und internationalem Recht eine eigene Rechtsprechung entwickelt. Er bejaht die innerstaatliche Verpflichtung, nationales Recht möglichst völkerrechtskonform auszulegen und betont, dass diese Verpflichtung insbesondere dann greife, wenn die innerstaatliche Norm eine Durchführungsbestimmung zur betreffenden völkerrechtlichen Norm ist.[408] Dem Staatsrat zufolge gilt der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung selbst dann, wenn die völkerrechtliche Norm keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Im Orfinger-Urteil vom 19. November 1996 hat er entschieden, dass „im Kollisionsfall zwischen einer nationalen Norm und einer in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung entfaltenden völkerrechtlichen Norm die von dem völkerrechtlichen Vertrag vorgesehene Vorschrift Vorrang genießt“ und dass „[…] sich aus Sicht des belgischen Verfassungsrechts die Geltung der Auslegung der Römischen Verträge durch den Europäischen Gerichtshof aus Art. 34 der Verfassung ergibt, selbst wenn durch diese Auslegung Art. 8 und 10 der Verfassung in Teilen die Wirksamkeit entzogen wird“. Die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Staatsrates folgt damit der Rechtsprechungslinie des EuGH,[409] wonach sowohl die EMRK als auch die Römischen Verträge Vorrang vor sämtlichen innerstaatlichen Vorschriften einschließlich der Verfassung haben;[410] im Gegensatz hierzu scheint die Gesetzgebungsabteilung einer anderen Sichtweise zu folgen und weiterhin die Verfassung als höchste Vorschrift im Normengefüge anzusehen.[411]
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 3. Einstweiliger Rechtsschutz
3. Einstweiliger Rechtsschutz
173
Wie bereits erläutert kann im Zuge der Nichtigkeitsklage ein Antrag auf Aussetzung der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme gestellt werden.[412] Das gilt auch für das öffentliche Vertragswesen und insbesondere auch im Vergaberecht.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 4. Klagebefugnis und Recht auf Zugang zum Richter (Schutznormtheorie)
4. Klagebefugnis und Recht auf Zugang zum