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Es bestehen verschiedene Beschwerdearten: Widerspruch vor der die Verwaltungsmaßnahme erlassenden Behörde, Widerspruch vor der nächsthöheren Stelle oder Beschwerde bei einer besonderen, eigens dafür vorgesehenen Stelle. Letztgenannte Verfahrensart ist stets ein geregeltes Widerspruchsverfahren, die beiden erstgenannten können auch als ungeregeltes Widerspruchsverfahren stattfinden.
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Wird der Widerspruch unmittelbar bei der Behörde eingelegt, die die angegriffene Maßnahme erlassen hat, kann diese ihre Entscheidung abändern oder zurückziehen.[244]
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Da die bürokratische Verwaltung typischerweise auf einem hierarchischen Aufbau beruht, kann der Widerspruch auch bei der nächsthöheren Behörde erhoben werden. Diese kann die angegriffene Maßnahme (zumindest grundsätzlich) auf Gesetzes- und Zweckmäßigkeit überprüfen. Für eine solche verwaltungsinterne Überprüfung auf nächsthöherer Ebene existieren zwar keinerlei gesetzliche Regelungen oder Verfahrensvorschriften, gleichwohl betont der Staatsrat, dass „der Aufbau der Verwaltung gemäß dem Führungsprinzip eine für deren geregelte Arbeitsweise unverzichtbare grundsätzliche Regel“[245] sei. Somit stehen den Dienstvorgesetzten drei Arten von Befugnissen offen: Weisungen und Anordnungen, die Aufhebung der Maßnahme oder die Ersatzvornahme.[246] Alles in allem haben Widersprüche vor der nächsthöheren Ebene in Belgien aber nur ausgesprochen selten Erfolg.[247]
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Anrufungen besonderer, extra für derartige Zwecke eingerichteter Beschwerdestellen erfolgen stets auf der Grundlage eines geregelten Verfahrens und sind z.B. bei Disziplinarmaßnahmen gegen Bedienstete dezentralisierter Behörden oder Maßnahmen von Baubehörden vorgesehen.
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Bei Maßnahmen dezentralisierter Behörden besteht mit der Oberaufsicht eine weitere Möglichkeit verwaltungsinterner Kontrolle. Hierbei handelt es sich um eine Überwachung durch oder auf der Grundlage einer Vorschrift von Gesetzesrang, die einer dezentralisierten Behörde in einem bestimmten Bezirk oder einem bestimmten Sachbereich Vorgaben auferlegt. Gleichzeitig kann die Aufsichtsbehörde, unter Wahrung der Selbstständigkeit der dezentralisierten Behörde, deren Akte auf Vereinbarkeit mit dem Gesetz (im weiteren Sinne) und dem Allgemeininteresse hin überprüfen.[248] Jacques Dembour definiert die Oberaufsicht als die Gesamtheit aller begrenzten, den Behörden des Zentralstaats, einer Gemeinschaft oder einer Region per Gesetz, Dekret oder Gesetzerlass eingeräumten Befugnisse zur Sicherung der Befolgung des Rechts und zur Wahrung des Allgemeininteresses gegen abträgliche Untätigkeit, Übergriffe oder Überschreitungen ihrer Befugnisse durch dezentralisierte Behörden und deren Beamte.[249] Die Oberaufsicht kann in unterschiedlichen Formen auftreten: als Stellungnahme, Billigung, Genehmigung, Aussetzung, Aufhebung, Ersatzvornahme, von Amts wegen erlassene Maßnahme, Entsendung eines Sonderbeauftragten, ersatzweiser Erlass eines Bescheids oder Abänderung eines Bescheids nach einer Beschwerde. In diesem Rahmen ist die allgemeine Aufsicht, welche repressiv und fakultativ ist und jede Verwaltungsmaßnahme einer dezentralisierten Behörde aussetzen oder aufheben kann, von der nachträglichen, besonderen[250] bzw. der spezifischen Aufsicht[251] zu unterscheiden. Dabei kann die Einlegung eines Rechtsmittels durch die Aufsichtsbehörde die Klagefrist vor dem Staatsrat hemmen.[252]
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Im Rahmen dieser Kontrollmöglichkeiten können im Allgemeinen sowohl die Rechtmäßigkeit[253] als auch die Zweckmäßigkeit[254] der beanstandeten Maßnahme überprüft werden. Dabei dient das Eingreifen der Aufsichtsbehörde dem Schutz des Allgemeininteresses,[255] wohingegen Gerichtsverfahren den Zweck haben, über die Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme zu entscheiden. Da der Gesetzgeber bei der Einrichtung einer Beschwerdemöglichkeit regelmäßig nicht präzisiert, ob es sich dabei um einen Klageweg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit handelt, ist der entscheidende Unterschied oftmals allein die Rechtskraft der Entscheidung und des Verfahrensweges. Innerhalb des Verwaltungsapparats entscheidet die Verwaltung durch Verfügung und nicht durch Gerichtsentscheid.[256]
cc) Kompetenzzuweisungen an die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Allgemeine Kompetenzvorschrift oder abschließende Aufzählung)
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Die Zuständigkeit der Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates für die Nichtigkeitsklage ist insofern allgemeiner Art, als es sich um eine Auffangkompetenz handelt. Sie greift nur, solange das Gesetz nicht einen anderen Klageweg[257] oder ein Rechtsmittel vor einem ad-hoc-Gericht[258] vorsieht. Im Übrigen sind die Gründe, die zur Nichtigkeitserklärung einer Verwaltungsmaßnahme führen können, in Art. 14 KGSR aufgezählt. Daneben existieren die besonderen Fachgerichte für bestimmte Rechtsstreitigkeiten.
dd) Zulässigkeitsvoraussetzungen, insbesondere Klagebefugnis
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Die Anrufung des Staatsrates erfolgt durch die Erhebung der Klage. Dabei kann grundsätzlich jeder Bürger eine Nichtigkeitsklage erheben. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen können unterteilt werden in solche, die sich auf Art und Anwendungsbereich der angegriffenen Verwaltungsmaßnahme beziehen, und solche, die die Person des Klägers und das Verfahren betreffen.
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Die Klage ist schriftlich einzureichen.[259] Sie muss die Nichtigkeitserklärung[260] einer einseitigen Verwaltungsmaßnahme begehren, durch welche der Kläger beschwert ist. Diese ist eindeutig zu benennen.[261] Gegen die angegriffene Verwaltungsmaßnahme darf kein anderes Rechtsmittel (mehr) gegeben sein, sodass eine Klage nur gegen eine letztinstanzliche oder in erster und ausschließlicher Instanz ergangene Maßnahme zulässig ist. Des Weiteren muss der Kläger angeben, welche Vorschrift er als verletzt rügt[262] und worin er deren Verletzung sieht.[263] In der Klageschrift müssen der Sachverhalt dargelegt und die Beweismittel aufgezählt werden. Im Übrigen muss die Klage vom Kläger oder seinem Anwalt unterschrieben sein.[264] Grundsätzlich darf je Klage nur eine Verwaltungsmaßnahme Gegenstand des Nichtigkeitsbegehrens sein.[265]
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Die Geltendmachung der Nichtigkeit einer Verwaltungsmaßnahme vor dem Staatsrat setzt zudem voraus, dass der Kläger – egal ob natürliche oder juristische Person[266] – partei- und nach den allgemeinen Vorschriften prozessfähig ist.[267] Die Klage einer noch in Gründung befindlichen Gesellschaft hat der Staatsrat als unzulässig abgewiesen, da diese noch keine Rechtsfähigkeit besaß.[268] Juristische Personen müssen den Beschluss ihres für die Klageerhebung zuständigen Gremiums vorlegen.[269] Gemäß Art. 19 KGSR gilt ein Rechtsanwalt als von einer prozessfähigen Person, die er zu vertreten behauptet, bis zum Beweis des Gegenteils als bevollmächtigt.
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Wie bereits erwähnt, ist eine Klage zudem gem. Art. 19 Abs. 1 KGSR nur zulässig, sofern der Kläger ein Rechtsschutzinteresse besitzt.[270] Dieses liegt vor, wenn die begehrte Nichtigkeit für den Kläger einen unmittelbaren, konkreten, gegenwärtigen und berechtigten Vorteil bewirken würde. Dabei muss der Kläger grundsätzlich ein eigenes Rechtsschutzinteresse geltend machen, Ausnahmen hiervon bestehen lediglich für bestimmte Umweltschutzvereinigungen oder für den Fall, dass die Ziele eines nicht wirtschaftlichen Vereins Streitgegenstand sind.[271] Durch eine entsprechende Änderung der KGSR mit Gesetz vom 20. Januar 2014 sollte darüber hinaus zukünftig verhindert werden, dass der Staatsrat eine Verwaltungsmaßnahme, die keinerlei Auswirkungen auf die konkrete Lage des Klägers hat, allein aus rein formalen Gründen für nichtig erklärt.[272] Art. 14 § 1 Abs. 3 KGSR bestimmt daher, dass „[d]ie in Absatz 1 erwähnten Unregelmäßigkeiten […] nur dann zu einer Nichtigkeitserklärung [führen], wenn sie im konkreten Einzelfall geeignet waren, die Tragweite der getroffenen Entscheidung zu beeinflussen, den Betroffenen eine rechtliche Gewährleistung entzogen oder sich auf die Zuständigkeit