175
Auch das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Verwaltung wurde durch das europäische Recht, einschließlich der EMRK, erheblich beeinflusst. Art. 8 und 2 EMRK sind Grundlage eines Rechts auf aktive Offenlegung der Verwaltungsdokumente der Behörden im Umwelt-[415] und Gesundheitsrecht.[416] Aus Art. 10 EMRK folgt zwar kein allgemeines Zugangsrecht;[417] die Norm kann sich diesbezüglich jedoch in bestimmten Fällen als hilfreich erweisen.[418] Eine Verletzung des von Art. 6 EMRK gewährleisteten Rechts auf wirksamen Zugang zu den Gerichten kann aus einer abweisenden Entscheidung über einen Antrag auf Zugang zu Verwaltungsdokumenten folgen.[419]
176
Auch im Unionsrecht findet sich das Ziel, insbesondere in Umweltangelegenheiten, den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung in Entscheidungsverfahren und den Zugang zu den Gerichten zu stärken. Hierzu wurde die Aarhus-Konvention vom 25. Juni 1998 durch die Europäische Gemeinschaft und 39 Staaten, unter ihnen Belgien, abgeschlossen und mit der Richtlinie 2003/4/EG[420] in das Unionsrecht übernommen. Sie wurde in Belgien[421] im flämischen Dekret vom 26. März 2004 über die Öffentlichkeit der Verwaltung, im wallonischen Umweltgesetzbuch, im Gesetz vom 5. August 2006 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Informationen in Umweltangelegenheiten sowie im Gesetzerlass vom 18. März 2004 über den Zugang zu Informationen in Umweltangelegenheiten in der Region Brüssel-Hauptstadt umgesetzt.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 5. Ausgleichsfunktion bei Feststellung von Schutzlücken
5. Ausgleichsfunktion bei Feststellung von Schutzlücken
177
Seit 2014 muss eine vor dem Staatsrat oder einem anderen Verwaltungsgericht auf föderaler Ebene obsiegende Partei – wie bereits gesehen – für eine Entschädigung ihres erlittenen Schadens nicht mehr zwangsläufig einen entsprechenden Antrag vor einem ordentlichen Gericht stellen. Die Organe der Verwaltungsgerichtsbarkeit können nunmehr selbst über die zivilrechtlichen Rechtsfolgen der von ihnen entschiedenen Rechtsstreitigkeiten befinden.[422]
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 6. Stellung im transnationalen Rechtsschutzgefüge
6. Stellung im transnationalen Rechtsschutzgefüge
178
Als Reaktion auf die Kritik insbesondere des EGMR an der zu langen Verfahrensdauer in Ausländerangelegenheiten wurde 2006 das Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen geschaffen. Auch hier ist eine Berücksichtigung des internationalen Rechts bei der Ausgestaltung des belgischen Gerichtswesens erkennbar.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 7. Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg
7. Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg
179
Der EuGH verlangt von den Verwaltungsbehörden, das innerstaatliche Recht in einer mit dem Unionsrecht vereinbaren Weise auszulegen[423] und mit diesem gegebenenfalls unvereinbare Vorschriften nicht anzuwenden.[424]
180
Auch Verwaltungsgerichte sind erstinstanzliche Unionsrichter. Es liegt somit auf der Hand, dass auch zwischen ihnen und dem EuGH eine enge Zusammenarbeit unerlässlich ist. Im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV sind jedoch „nur die nationalen Gerichte befugt […], eine Vorlagefrage an den Europäischen Gerichtshof zu richten“[425]. Dabei ist der Begriff „Gericht“ eigenständig unionsrechtlich auszulegen.[426] Folglich stellt sich angesichts der vielfältigen Zuständigkeiten des belgischen Staatsrates die Frage, wann sich dieser im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens als „nationales Gericht“ an den EuGH wenden kann. Entscheidet er über Nichtigkeitsklagen wegen Überschreitung von Amtsbefugnissen, über Revisionsanträge, über Entschädigungsanträge aufgrund eines außergewöhnlichen Schadens sowie im Rahmen von Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung, agiert er unbestritten als Gericht. Somit handelt es sich bei einer Vorlagefrage in diesen Fällen um einen Akt der Kooperation zwischen Richtern i.S.v. Art. 267 AEUV. Die Gesetzgebungsabteilung hingegen hat lediglich eine Beratungsfunktion inne und ist daher kein Gericht i.S.v. Art. 267 AEUV.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 8. Horizontale Kooperation (mit anderen Gerichten)
8. Horizontale Kooperation (mit anderen Gerichten)
181
Gemäß Art. 26 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof hat der Staatsrat Letzterem auf Antrag einer der am Verfahren beteiligten Parteien jede Frage im Zusammenhang mit der Auslegung der Vorschriften des Titels II (Grundfreiheiten) oder der Art. 170 und 172 (steuerrechtliche Grundprinzipien) sowie des Art. 191 (Rechtsstellung der Ausländer) Belg. Verf. vorzulegen. Gleiches gilt in Bezug auf Fragen zur Auslegung der Kompetenzverteilungsvorschriften zwischen den Behörden der Föderation, der Gemeinschaften und der Regionen.
182
Die obersten Gerichtshöfe der europäischen Staaten haben sich in der Vereinigung der Staatsräte und obersten Verwaltungsgerichte der Europäischen Union (ACA) zusammengeschlossen. Ein Beleg für die Bedeutung dieser Vereinigung für den Rechtsschutz des Bürgers war die Arbeitstagung „Verstärkte Wirksamkeit der obersten Verwaltungsgerichte“, welche auf Initiative der ACA am 1. und 2. März 2012 in Brüssel stattfand und eine rechtsvergleichende Analyse folgender Themen zum Gegenstand hatte: die Zuständigkeit für die Wiederherstellung der Gesetzeskonformität einer Verwaltungsmaßnahme, insbesondere mittels eines dafür vorgesehenen Heilungsverfahrens, die Zuständigkeit für Entschädigungsanträge und Nichtigkeitsklagen sowie die tatsächliche Vollstreckung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › VI. Erkenntnisse
VI. Erkenntnisse
183
Über den Schutz des Bürgers gegen Verwaltungsmaßnahmen in Belgien kann abschließend zusammenfassend Folgendes festgehalten werden:
184
In erster Linie basiert der Rechtschutz des Bürgers gegen Maßnahmen der Verwaltung auf zwei unterschiedlichen Mechanismen. Dabei legt der eine den Schwerpunkt auf die Einrede der Rechtswidrigkeit einer Verwaltungsmaßnahme und ist zur Bewahrung der Normenhierarchie von jedem Gericht zu prüfen. Der andere und jüngere baut