bb) Entscheidung innerhalb angemessener Frist
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Als rechtsstaatlicher Bestandteil eines fairen Verfahrens gilt auch vor belgischen Verwaltungsgerichten das Recht auf eine Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist. Dem liegt auch der Gedanke zugrunde, dass sich lange hinziehende Verfahren die Beweisermittlung erschweren oder diese sogar gänzlich unmöglich machen,[313] was nicht nur der Rechtssicherheit schadet, sondern auch die Gefahr birgt, das Vertrauen der Bürger zu erschüttern.[314] Das Recht auf eine Gerichtsentscheidung innerhalb angemessener Frist findet sich auch in internationalen Rechtsnormen, insbesondere Art. 6 Abs. 1 EMRK. Demnach hat „[j]ede Person […] ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen […] von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist[315] verhandelt wird“. Der Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ wird dabei – auch vom Staatsrat – weit ausgelegt und die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auch auf Verfahren vor den Verwaltungsgerichten angenommen.[316] Da jedoch keinerlei gesetzliche Definition dessen existiert, was konkret unter einer angemessenen Frist zu verstehen ist, muss diese durch die Rechtsprechung näher präzisiert werden.
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Dem Kassationshof zufolge ist die „angemessene Frist“ i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EMRK der Zeitraum, innerhalb dessen bei einer öffentlichen Klage gegen eine Person die Untersuchungen abgeschlossen und die Klage entschieden werden muss.[317] Die Angemessenheit der Frist im konkreten Einzelfall bestimmt sich dabei unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte und richtet sich nach der Komplexität des jeweiligen Sachverhalts, dem Beitrag der Parteien zur Aufklärung der Streitigkeit, deren Verhalten sowie der Bedeutung des Verfahrens.
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Auch im Rahmen des geregelten Widerspruchsverfahrens zwingt der allgemeine Grundsatz guter und angemessener Verwaltung die Behörden dazu, im Verhältnis zum Bürger bestimmte Grundsätze einzuhalten und eine angemessene Frist für die Entscheidungsfindung zu wahren.[318] Die von der Behörde einzuhaltende angemessene Frist für die Vornahme einer Maßnahme beginnt dabei, sobald sie in der Lage ist, diese zu erlassen. Im Rahmen des geregelten Widerspruchsverfahrens bezieht sich die Angemessenheit der Entscheidungsfrist somit sowohl auf „die Dauer zwischen Einlegung des Widerspruchs und der Entscheidung hierüber als auch auf die Dauer zwischen dem Empfang der Stellungnahmen durch die entscheidende Behörde und dem Erlass der angegriffenen Entscheidung“.[319]
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Ein Kläger, der sich mit einer unverhältnismäßig langen Verfahrensdauer konfrontiert sieht, kann einen Staatshaftungsanspruch geltend machen.[320] Ist eine Entschädigung möglich, kann er die überlange Verfahrensdauer hingegen nicht als Klagegrund für eine Aufhebung des zum Abschluss dieses überlangen Verfahrens ergehenden Gerichtsurteils geltend machen.[321]
cc) Beweislast und Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
des Gerichts mit dem Kläger
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Das Verfahren vor dem Staatsrat ist größtenteils ein Untersuchungsverfahren. Dies folgt unmittelbar aus dem objektiven Wesen der Klagen vor dem Staatsrat.[322] Bereits im Bericht an den Regenten vom 23. August 1948 über das Verfahren vor der Abteilung für Verwaltungssachen des Staatsrates wurde hierzu ausgeführt, dass „[e]s […] gerade dem Richter, und nicht den Streitparteien oder deren Rechtsbeiständen, obliegt, das Verfahren zu leiten, weil der Gedanke einer Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst untrennbar mit der Idee des Allgemeininteresses verbunden ist. Jede andere Herangehensweise würde es den Parteien, die natürlich versucht wären, ihre persönlichen Vorstellungen und Interessen dem Allgemeininteresse vorzuziehen, erlauben, die Entscheidung eines Rechtsstreits hinauszuzögern; damit würde es einer Behörde ermöglicht, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um – entgegen der Rechtslage – die Rechtswirkungen ihrer gesetzeswidrigen Maßnahme länger aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund leitet in Frankreich, wie auch in den Niederlanden, der Staatsrat selbst das Verfahren.“[323] Folge dieses Grundsatzes ist, dass der Kläger keinen Nachweis für die behauptete Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme erbringen muss. Vielmehr liegt die Beweislast bei der Behörde, welche die Maßnahme erlassen hat (diese wird als beklagte Partei bezeichnet); sie hat darzulegen, dass die angegriffene Maßnahme rechtmäßig ist.
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Allerdings wird der Klagegegenstand durch den Klageantrag bestimmt und umgrenzt. Dieser kann grundsätzlich nicht ausgedehnt werden, es sei denn der Kläger konnte keine Kenntnis von einem weiteren, eine Rüge begründenden Gesichtspunkt haben. Der Klageantrag muss darüber hinaus die Klagegründe, d.h. eine „hinreichend klare Benennung der verletzten Vorschrift und der Art und Weise dieser Verletzung“[324] anführen. Gleichwohl verzichtet der Staatsrat grundsätzlich auf unnötigen Formalismus und akzeptiert auch schlecht formulierte Antragsgründe oder ungenau bezeichnete Vorschriften, solange der Wille des Klägers ersichtlich ist.[325] Er lässt hierbei im Allgemeinen Nachsicht walten, insbesondere wenn die Klage ohne anwaltlichen Beistand erhoben wurde. So hat er einem Aussetzungsantrag wegen höchster Dringlichkeit stattgegeben, der sich darauf beschränkte, den Staatsrat zu „bitten, die Anordnung, meinen Club abends um 22 Uhr zu schließen, aufzuheben. Kann man mir meine Lebensgrundlage wirklich grundlos entziehen, nachdem ich mir 24 Jahre nichts zu Schulden habe kommen lassen?“[326] Allerdings vertritt der Staatsrat entgegen der Auffassung der ordentlichen Gerichte, dass der Grundsatz, nach dem ein ordentliches Gericht von Amts wegen den auf die vorgebrachten Tatsachen anzuwendenden Rechtsrahmen ermitteln muss, „nicht für ein Gericht gilt, das die objektive Rechtmäßigkeit einer ihm vorgelegten Verwaltungsentscheidung zu würdigen hat“[327].
dd) Recht auf Unterrichtung, Zugang zu den Dokumenten der Verwaltung
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Art. 32 Belg. Verf. sieht seit 1993 die Transparenz von Verwaltungsentscheidungen vor, insbesondere um es „Personen, die eine Klage vor Gericht erwägen, zu ermöglichen, von einem Vorgang vor Anrufung des Gerichts Kenntnis zu erlangen und eine Klage nur in Kenntnis der tatsächlichen Sachlage zu erheben“[328]. Diese Transparenzpflicht versetzt den Bürger in die Lage, die Verwaltung zu kontrollieren.[329] Sie ist durch föderale Gesetze und Gesetze der föderierten Teilgebiete näher ausgestaltet. Gleichzeitig wurden Beschwerdemöglichkeiten geschaffen, falls die Herausgabe eines Dokuments der Verwaltung verweigert wird.[330] Ein Gesetz vom 11. April 1994 über die Öffentlichkeit der Verwaltung[331] bekräftigte das Recht eines jeden Bürgers, Einsicht in ihn betreffende Verwaltungsunterlagen zu nehmen, eine Abschrift davon zu erhalten und gegebenenfalls darin enthaltene fehlerhafte Angaben berichtigen zu lassen. Zu diesem Zweck wurden auf den unterschiedlichen staatlichen Ebenen Kommissionen für den Zugang zu Verwaltungsdokumenten eingerichtet.
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Durch diesen Zugang kann der Bürger im Streitfall mit der Verwaltung sich „Waffen“ verschaffen, mit denen er sich zur Wehr setzen kann.[332] Dabei verhindert der oben erläuterte Grundsatz der Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist,[333] dass es zu Schnellverfahren kommt und dadurch das Recht des Bürgers auf Einsicht der Dokumente der Verwaltung ausgehebelt würde.[334] Der Staatsrat achtet darauf, dass die einem Bürger im Rahmen einer Ladung eingeräumte Frist lang genug ist, damit dieser ausreichend Gelegenheit hat, Einsicht