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Das Gericht ist verpflichtet, auf alle vorgetragenen Klagegründe einzugehen, die anhängige Sache zu entscheiden und das Urteil zu begründen. Daneben ist es verpflichtet, mit gebotener Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit zu urteilen.
aa) Das Entschädigungsgesuch
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Ursprünglich hatte die Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Entschädigungsgesuchen lediglich beratende Funktion. Heute ist das Entschädigungsgesuch in Art. 11 KGSR geregelt. Macht der Rechtssuchende einen Schaden geltend, für den eine Wiedergutmachung in Form von Schadensersatz vor den ordentlichen Gerichten mangels kausalen Fehlverhaltens der Verwaltung ausscheidet, kann er hierfür u.U. eine billige Entschädigung erhalten. Ein Entschädigungsgesuch an den Staatsrat ist jedoch nur dann möglich, wenn dem Rechtssuchenden kein anderer Rechtsbehelf vor einem anderen Gericht zur Verfügung steht.[273] Bei dem auszugleichenden Nachteil muss es sich um einen außergewöhnlichen materiellen oder ideellen[274] Schaden handeln. Dieser muss unmittelbar auf eine Handlung der Verwaltung[275] zurückgeführt werden können (damit scheiden Schäden, die allein durch ein Gesetz oder ein Gerichtsurteil bewirkt worden sind, aus[276]). Darüber hinaus muss der Schaden schwerwiegend, selten, unvorhersehbar[277] und „außergewöhnlich“ sein. Ein Schaden ist dann „außergewöhnlich“, wenn es sich um eine „unnatürliche Beeinträchtigung“ handelt, die „aufgrund ihrer Art oder ihrer Bedeutung über die gewöhnlichen, mit dem Leben in der Gesellschaft einhergehenden Unannehmlichkeiten und Entbehrungen hinausgeht“[278].
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Ein Beispiel hierfür sind Schäden, die aus einer verpflichtend vorgeschriebenen Pockenschutzimpfung resultierten. Der Kassationshof konnte in dieser Impfpflicht kein fehlerhaftes Handeln der Verwaltung feststellen; der sich daraus ergebende Schaden war nicht vorhersehbar.[279] In derartigen Fällen kann daher der Staatsrat hilfsweise über eine Entschädigung entscheiden, welche von der Verwaltung als Wiedergutmachung für „einen an sich zwar rechtmäßigen, aber dennoch nicht hinnehmbaren Eingriff in den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor den öffentlichen Lasten“[280] geleistet werden muss.
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Die Entscheidung des Staatsrates über das Entschädigungsgesuch erfolgt grundsätzlich aufgrund von Billigkeitserwägungen unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls.[281] Dabei kann dieser teilweise von Sachverständigen unterstützt werden.[282] Er darf keine höhere als die vom Ersuchenden ursprünglich begehrte Entschädigung gewähren.[283]
bb) Die Nichtigkeitsklage
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Nichtigkeitsklagen machen den Großteil der Verfahren vor der Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates aus. Gemäß Art. 14 KGSR befindet diese „durch Urteil über […] Nichtigkeitsklagen gegen Akte und Verordnungen […] der verschiedenen Verwaltungsbehörden aufgrund der Verletzung wesentlicher oder zur Vermeidung der Nichtigkeit vorgeschriebener Formvorschriften, Überschreitung der Amtsbefugnisse oder Ermessensmissbrauchs“. Gegenstand der Nichtigkeitsklage können dabei u.U. auch Verwaltungsmaßnahmen der gesetzgebenden Versammlungen sowie der Organe der rechtsprechenden Gewalt, wie die Ernennung zum Mitglied des Hohen Justizrats, des Rechnungshofes, des Verfassungsgerichtshofes oder des Staatsrates, sein. Die Frage, ob eine Maßnahme mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden kann, hängt also nicht nur von der formellen Einordnung des diese erlassenden Organs als Verwaltungsbehörde i.e.S. ab (wobei bereits der Begriff der „Verwaltungsbehörde“ vielschichtig ist[284]). Es spielen auch andere Kriterien, wie die Funktionsweise des Organs, eine Rolle. „Verwaltungsbehörden“ i.S.v. Art. 14 KGSR sind daher folgende Einrichtungen: Bereits formell sind all diejenigen Organe erfasst, die nach der Verfassung und den besonderen Gesetzen zur Institutionenreform der ausführenden Gewalt angehören.[285] Dazu zählen auch diejenigen Einrichtungen, die gemäß einer Vorschrift von Verfassungs- oder Gesetzesrang der Weisungsbefugnis oder der Aufsicht durch eine der belgischen Regierungen unterliegen. Darüber hinaus sind alle vom Staat geschaffenen oder anerkannten Einrichtungen, deren Arbeitsweise von diesem festgelegt und gesteuert wird, grundsätzlich ebenfalls Verwaltungsbehörden i.S.v. Art. 14 KGSR, sofern sie einseitig für Dritte verpflichtende Entscheidungen erlassen können. Dies gilt jedoch nur, sofern sie darüber hinaus die sachlichen Merkmale, die der Kassationshof als Gericht für Kompetenzkonflikte in einem Urteil vom 6. September 2002[286] aufgestellt hat, erfüllen.
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Bei der angegriffenen Maßnahme muss es sich ferner um eine einseitige Verwaltungsmaßnahme handeln. Ein Vertrag hingegen kann als solcher nicht vor dem Staatsrat angefochten werden.[287] Ein nicht berücksichtigter Bewerber kann jedoch unter Berufung auf die bereits erwähnte Rechtsfigur des sogenannten abtrennbaren Verwaltungsaktes[288] die Verwaltungsstreitsachenabteilung anrufen.[289] Dabei ficht er jedoch nicht den Vertrag zwischen der Behörde und dem erfolgreichen Konkurrenten als solchen an, sondern lediglich den behördlichen Beschluss, den Vertrag abzuschließen. Entscheidungen, welche die Vertragsdurchsetzung oder eine Auflösung des Vertragsverhältnisses mit dem erfolgreichen Konkurrenten zum Gegenstand haben, können hingegen durch einen unterlegenen Bewerber niemals vor dem Staatsrat angefochten werden, denn diese Maßnahmen betreffen die sich aus dem Vertragsverhältnis ergebenden subjektiven Rechte. Gleiches gilt für die Kündigung eines Vertragsbediensteten durch eine Behörde; hierfür sind die Arbeitsgerichte zuständig.[290]
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Da ein Stillschweigen der Verwaltung ebenfalls Rechtsfolgen bewirken kann, ermöglicht Art. 14 § 3 KGSR eine Anrufung der Verwaltungsstreitsachenabteilung auch bezüglich einer stillschweigenden Ablehnungsentscheidung der Verwaltung.
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Für die Einlegung der Nichtigkeitsklage gegen eine endgültige[291] Verwaltungsentscheidung hat der Bürger 60 Tage ab dem auf die Bekanntmachung, die Zustellung oder die Kenntnisnahme der betreffenden Verordnung oder des betreffenden Bescheids folgenden Tag Zeit. Hierbei handelt es sich um eine zwingende Ausschlussfrist. Erlässt die Verwaltung einen individuell-konkreten Bescheid, ist sie gem. Art. 19 Abs. 2 KGSR verpflichtet, auf den verfügbaren Rechtsweg und dessen Modalitäten hinzuweisen. Fehlt eine solche Rechtsbehelfsbelehrung, beginnt die 60-Tages-Frist erst vier Monate nach der Kenntnisnahme des Bescheids durch den Adressaten zu laufen. Gemäß Art. 19 Abs. 3 KGSR wird die Klagefrist darüber hinaus durch eine innerhalb der genannten 60-Tages-Frist bei einer von einer Vorschrift mit Gesetzesrang vorgesehenen Ombudsstelle eingelegte Beschwerde gegen einen Akt oder eine Verordnung i.S.v. Art. 14 § 1 KGSR gehemmt.
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Ein nicht geregeltes Widerspruchsverfahren (insbesondere der Widerspruch vor der nächsthöheren Stelle) unterbricht die Frist für die Klageerhebung vor dem Staatsrat nicht.[292] Es ist daher empfehlenswert, binnen der 60-Tages-Frist auch eine Nichtigkeitsklage beziehungsweise einen Aussetzungsantrag[293] zu stellen. Dadurch kann man ohne nachteilige Folgen parallel den Weg des nicht geregelten Widerspruchsverfahrens beschreiten, notfalls kann die Klage nämlich wieder zurückgenommen werden.
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Das Verfahren der Nichtigkeitsklage beginnt mit dem Eingang der Klageschrift bei der Kanzlei des Staatsrates, welche die Klage in die Gerichtsterminliste einträgt. Die Klage wird dem Antragsgegner zur Kenntnisnahme zugestellt. Dieser verfügt anschließend über eine Frist von 60 Tagen, um einen Erwiderungsschriftsatz einzureichen. Der Kläger hat sodann wiederum erneut 60 Tage Zeit, seinerseits eine Replik vorzulegen. Hat die beklagte Partei keinen Erwiderungsschriftsatz vorgelegt, gibt der Kläger einen Erläuterungsschriftsatz ab. Sodann verfasst ein Mitglied des Auditorats ein Gutachten.[294] Die Parteien können innerhalb von 30 Tagen