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Eine solche Zuständigkeitsklage setzt voraus, dass die Frage nach der Zuständigkeit des Staatsrates bereits von diesem entschieden worden ist.[168] Bejaht der Kassationshof – entgegen der Auffassung des Staatsrates – dessen Zuständigkeit, wird die Sache an die Verwaltungsstreitsachenabteilung zurückverwiesen. Bei der erneuten Behandlung berät diese in einer anderen Zusammensetzung. Sie hat dabei der Auslegung des Kassationshofes zu folgen.
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Die Befugnisse des Kassationshofes sind im Rahmen der Zuständigkeitsklage beschränkt: „Der Gerichtshof überprüft nicht, ob der Staatsrat zu Recht oder zu Unrecht bejaht oder verneint hat, dass eine Handlung der Verwaltung deren Amtsbefugnisse überschritten habe, einen Ermessensmissbrauch darstelle[169] oder eine wesentliche Formvorschrift oder eine Vorschrift, deren Nichtbeachtung zur Nichtigkeit der Handlung führt, verletzt habe; […] seine Aufgabe besteht im Wesentlichen in der Prüfung, ob die vor dem Staatsrat erhobene Klage in den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit fiel oder nicht.“[170] Rügt der Kläger die Verletzung einer bürgerlich-rechtlichen Vorschrift (z.B. einer gesetzlich oder vertraglich vorgesehenen Dienstbarkeit) vor dem Staatsrat, so birgt dies nach der Versteele-Rechtsprechung[171] das Risiko, dass er hierdurch eine negative Zuständigkeitsentscheidung bewirkt.[172]
aa) Von der ordentlichen Gerichtsbarkeit übernommene verwaltungsgerichtliche Aufgaben
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Gemäß Art. 159 Belg. Verf. obliegt es allen Richtern[173], eine Inzidentkontrolle[174] der Gesetzmäßigkeit (jedoch nicht der Zweckmäßigkeit[175]) von Bescheiden und Verordnungen der Verwaltung vorzunehmen. Eine Verwaltungsmaßnahme, die in der Normenhierarchie höher stehendes Recht verletzt, dürfen sie nicht anwenden. Begehrt die Verwaltung vor einem Gericht die Durchsetzung einer solchen Maßnahme, ermöglicht der Einwand der Rechtswidrigkeit (question d’illégalité) dem Rechtssuchenden die Anfechtung einer allgemeinen oder individuell-konkreten Verwaltungsmaßnahme. Eine solche kann auch im Rahmen eines Rechtsstreites erfolgen, der nicht in erster Linie die Behörde betrifft, welche die Verwaltungsmaßnahme erlassen hat.[176]
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Ein erfolgreicher Einwand der Rechtswidrigkeit führt allerdings nicht zur Nichtigkeitserklärung der rechtswidrigen Verwaltungsmaßnahme. Er hat vielmehr allein deren Nichtanwendung zur Folge, d.h. das Gericht darf die Verwaltungsmaßnahme lediglich im konkreten Rechtsstreit nicht anwenden. Aufgrund der ausschließlichen inter-partes-Wirkung eines Gerichtsurteils (Art. 6 und 23 Code judiciaire) ergibt sich im Rahmen eines Rechtsstreits vor den ordentlichen Gerichten somit keine Wirkung erga omnes, wie dies bei einer Nichtigkeitserklärung durch den Staatsrat der Fall wäre. Hierzu hat der Kassationshof entschieden, dass „[d]ie Entscheidung, eine Maßnahme der Behörde gem. Art. 159 für nicht rechtsverbindlich zu erklären, lediglich bewirkt, dass den Streitparteien hieraus keine Rechte oder Pflichten entstehen. Die rechtswidrige Maßnahme bleibt bestehen, solange sie nicht im Rahmen einer Nichtigkeitsklage für nichtig erklärt wird.“[177] Gemäß Art. 159 Belg. Verf. (der gem. Art. 140 Abs. 2 Belg. Verf. auch bei Verwaltungsmaßnahmen der Deutschsprachigen Gemeinschaft anwendbar ist) werden Verwaltungsmaßnahmen am Maßstab jeder höherrangigen Norm geprüft. Dies schließt Völkerrecht und Europarecht ein, sofern es hinreichend genau bestimmt ist und für eine Prüfung herangezogen werden kann.[178] Die Gerichte dürfen jedoch keinerlei Zweckmäßigkeitswürdigungen der angegriffenen Maßnahme vornehmen.[179] Darüber hinaus darf die Rechtswidrigkeit auch nicht bereits durch den Staatsrat festgestellt worden sein.[180]
bb) Von der Verfassungsgerichtsbarkeit übernommene verwaltungsgerichtliche Aufgaben
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Der Verfassungsgerichtshof überprüft im Wesentlichen föderale Gesetze und Gesetze der föderierten Teilgebiete im Rahmen der Normenkontrolle am Maßstab des Titels II der Verfassung und deren Art. 170, 172 und 191 sowie der Verfassungsvorschriften zur Rechtsstellung der Ausländer in Belgien und zu den Kompetenzzuweisungen zugunsten der Föderation, der Regionen und der Gemeinschaften. Daher spielt er in Bezug auf Handlungen der Verwaltung unmittelbar keine Rolle. Allerdings kann durch Urteil der Verfassungsgerichtsbarkeit eine Gesetzesvorschrift für verfassungswidrig erklärt werden, durch welche die Verwaltung zu bestimmten Maßnahmen ermächtigt wurde.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 4. Verwaltungsgerichtsbarkeit und neue Formen der Streitbeilegung
4. Verwaltungsgerichtsbarkeit und neue Formen der Streitbeilegung
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Im Rahmen der Reform von 2014 legte der Gesetzgeber das Hauptaugenmerk auf das bereits bestehende Ombudsman-Verfahren.[181] Dabei präzisierte er dessen Verhältnis zu den Klagemöglichkeiten vor den Verwaltungsgerichten und zielte darauf ab, die verschiedenen Verfahren besser aufeinander abzustimmen.
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Zusätzlich zum klassischen Rechtsweg der Nichtigkeitsklage steht dem Rechtssuchenden die Möglichkeit offen, eine Beschwerde gegen eine Verwaltungsmaßnahme vor einer Ombudsstelle einzulegen. Diese Möglichkeit der Konfliktbeilegung ist vom erstmals im Jahr 1713 in Schweden eingeführten ombudsman inspiriert.[182] Bis 1950 blieb die Institution des ombudsman eine rein schwedische Erscheinung,[183] ehe sie sich erfolgreich ausbreitete – u.a. nach Belgien, wo heute der Médiateur (französisch) bzw. Ombudsman (niederländisch) besteht. Zwar sind Ombudsstellen eine weitere Rechtsschutzmöglichkeit zugunsten des Bürgers, sie gelten jedoch nicht als besonders effektiver Rechtsbehelf.
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Das Verfahren vor dem ombudsman ist größtenteils informell. In dessen Rahmen sollen Kompromisse bei konkreten Meinungsverschiedenheiten, aber auch allgemeinere Lösungen durch Berichte gefunden werden.
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Der erste belgische ombudsman wurde 1989 von der Stadt Antwerpen und der französischsprachigen Gemeinschaft in Form eines „Allgemeinen Beauftragten für Kinderrechte und Jugendhilfe“ eingesetzt.[184] Die hierdurch in Gang gesetzte Entwicklung[185] führte zur zunehmenden Einsetzung von ombudsmen auf Gemeindeebene[186] sowie von allgemeinen, für die gesamte Verwaltung zuständigen Ombudsstellen.[187] Zuletzt wurden durch Gesetz vom 22. März 1995[188] auch auf föderaler Ebene Bundes-Ombudsstellen geschaffen. Gemäß Art. 14 bestehen deren Hauptaufgaben darin, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit von Bundesbehörden erhobenen Beschwerden zu prüfen, auf ein entsprechendes Ersuchen der Abgeordnetenkammer hin die Arbeitsweise der Bundesbehörden zu untersuchen, auf der Grundlage der im Rahmen dieser Aufgaben gewonnenen Erkenntnisse Empfehlungen zu erarbeiten und einen Bericht über die allgemeine Arbeitsweise der Verwaltung zu erstellen.[189] Die beiden Bundes-Ombudsstellen – einer französischsprachig, der andere niederländischsprachig – werden von der Abgeordnetenkammer für eine sechsjährige Amtszeit gewählt. Eine Wiederwahl ist zulässig.
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Zur Vermeidung unnötiger Anrufungen der Ombudsstellen muss der Bürger zunächst Widerspruch vor der Behörde einlegen, die die Verwaltungsmaßnahme erlassen hat. Damit ist „das Widerspruchsverfahren