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Der Staatsrat entscheidet gem. Art. 14 § 2 KGSR durch Urteil auch über Revisionseinlegungen gegen letztinstanzliche Beschlüsse anderer Rechtsprechungsorgane der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Gemäß Art. 16 KGSR hat er darüber hinaus in bestimmten Bereichen eine Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung (z.B. bei Beschwerden im Zusammenhang mit Gemeindewahlen, Wahlen in Bezug auf die öffentlichen Sozialhilfezentren und Wahlen zu den Räten des Polizeidienstes sowie bei Streitigkeiten betreffend den Rücktritt, die Abberufung oder die Absetzung eines kommunalen Mandatsträgers oder eines Mitglieds des Rats für Sozialhilfesachen). Gemäß Art. 11 KGSR ist der Staatsrat ferner zuständig für Entscheidungen über die Wiedergutmachung von außergewöhnlichen, von einer Verwaltungsbehörde verursachten Schäden.
c) Sondergerichtsbarkeiten
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Die belgische Verwaltungsgerichtsbarkeit kennt lediglich ein einzelnes Gericht mit allgemeiner Zuständigkeit, den Staatsrat. Bei allen anderen Rechtsprechungsorganen der Verwaltungsgerichtsbarkeit handelt es sich um besondere Fachgerichte. In der Region Brüssel-Hauptstadt besteht beispielsweise ein durch Sondergesetz vom 12. Januar 1989 (Art. 83quinquies, § 2) geschaffenes „rechtsprechendes Gremium“, dessen Rechtsprechungsbefugnisse in den anderen Regionen durch Provinzialdeputationen (d.h. die Provinzregierungen) ausgeübt werden. Darüber hinaus besteht der Wettbewerbsrat (mit Plenum, Auditorat und Geschäftsstelle). Weitere Beispiele für solche Sondergerichte sind das flämische Milieuhandhavingscollege (Umweltgericht der Region Flandern), der flämische Raad voor vergunningsbetwistingen (Rat für Streitigkeiten in Bewilligungs- und Genehmigungsverfahren), der flämische Raad voor verkiezingsbetwistingen (Rat für Wahlprüfungsbeschwerden), in der Französischen Gemeinschaft der Berufungsrat für Ausbildungsbeihilfen sowie der wallonische „Berufungsausschuss für Beschwerden gegen Bescheide der wallonischen Agentur für die Integration Behinderter (AWIPH)“, die Behinderten Sach- oder Geldleistungen zusprechen.
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Ferner existiert auf Bundesebene ein Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen (Gesetz vom 15. September 2006 zur Reform des Staatsrates und zur Einrichtung eines Gerichts für Ausländerrechtsstreitsachen).[223] Es handelt sich dabei um ein besonders stark ausgebautes und erheblich vom Staatsrat beeinflusstes Gericht. Vor diesem erstinstanzlichen Gericht, dessen Zuständigkeiten von Art. 39/2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern (AuslG) in der Fassung des Gesetzes von 2006[224] festgelegt werden, werden zwei Arten von Verfahren verhandelt: zum einen Klagen hinsichtlich politischer Rechte (Art. 39/2 § 1 AuslG) und zum anderen auch eine objektive, an Art. 14 KGSR angelehnte Verfahrensart (Art. 39/2 § 2 AuslG). Das hat zur Folge, dass dieses Gericht nicht nur Nichtigkeitsklagen (Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltungsmaßnahme) gegen auf der Grundlage des AuslG erlassene Bescheide der Verwaltung behandelt, sondern auch – mit Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung – Anträge zur Abänderung einer Entscheidung des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose.[225] Abschließend muss noch auf die Existenz des Rechnungshofes hingewiesen werden, der jedoch durch die in Art. 180 Belg. Verf. bestehende Rechtsgrundlage einen Sonderstatus innehat und daher nicht als Verwaltungsgericht i.e.S., sondern als Gerichtsbarkeit sui generis anzusehen ist.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › IV. Die rechtlichen Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kontext › 3. Verfahrensarten
aa) Unüberprüfbare Bereiche
(Theorie des Regierungsakts/der politischen Maßnahme)
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Von der Verwaltung abgeschlossene Verträge sind einer Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte grundsätzlich entzogen.[226] Eine Ausnahme hiervon bilden Fälle, die sich aus der Rechtsfigur des sogenannten abtrennbaren Verwaltungsaktes ergeben.[227] Da sie keine beschwerenden Rechtsakte darstellen, sind außerdem auch vorbereitende Handlungen,[228] einfache Stellungnahmen (welche die Verwaltung nicht binden), Bestätigungsschreiben, Akte, die ein Anerkenntnis eines bereits eingeräumten Rechts enthalten (und insofern lediglich Tatsachenfeststellungen zum Inhalt haben),[229] dienstinterne Runderlasse, Schreiben und Vermerke sowie dienstinterne Anweisungen einer verwaltungsgerichtlichen Würdigung grundsätzlich nicht zugänglich, es sei denn sie greifen faktisch doch in die Struktur der Rechtsordnung ein.
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Anders als sein französisches Pendant[230] lehnt der belgische Staatsrat eine „Theorie der Regierungsakte“, die ihn an der Überprüfung politisch brisanter Maßnahmen hindern könnte, ab. So hat er beispielsweise auch im Rahmen einer Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit eines königlichen Erlasses zur Ernennung eines Provinzgouverneurs überprüft, obgleich sich der Staat in diesem Verfahren auf die Theorie des Regierungsaktes berufen hatte.[231] Nichtsdestotrotz wird die Begründung bestimmter politisch heikler Rechtsakte nur eingeschränkt überprüft.[232]
bb) Rechtsschutzmöglichkeiten innerhalb der Verwaltung
(interne Überprüfung)
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Bei einer direkt an sie gerichteten Beschwerde hat die Verwaltung die Möglichkeit, ihre ursprüngliche Entscheidung aufzuheben und infolgedessen ein verwaltungsgerichtliches Verfahren abzuwenden. Robert Andersen und Pierre Nihoul zufolge geht es hierbei um „Eingaben an eine Behörde, die als Verwaltungsorgan durch eine Verwaltungsmaßnahme entscheidet, die einen Rechtsakt der Verwaltung infrage stellen – und zwar sowohl im Hinblick auf dessen Gesetzmäßigkeit als auch auf dessen Zweckmäßigkeit“[233].
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In einigen Fällen existieren rechtlich geregelte Widerspruchsverfahren, für die jeweils bestimmte Beschwerdestellen zuständig sind. Teilweise fehlt ein solch geregeltes Verfahren jedoch. Wendet sich der Betroffene im letztgenanntem Fall dennoch an die Behörde, nimmt er lediglich sein Petitionsrecht aus Art. 28 Belg. Verf. und Art. 41 des Sondergesetzes vom 8. August 1980 zur Institutionenreform wahr.[234] Grundsätzlich wird dadurch weder die Frist für eine Klageerhebung vor dem Staatsrat[235] noch für eine Eingabe in einem geregelten Widerspruchsverfahren gehemmt,[236] wobei diesbezüglich Ausnahmen existieren.[237] Die Verwaltung ist im Rahmen eines ungeregelten Widerspruchsverfahrens nicht verpflichtet, dem Bürger zu antworten.[238] Die ablehnende Entscheidung im Rahmen eines nicht geregelten Widerspruchsverfahrens gilt nicht als neue Verwaltungsmaßnahme, sondern lediglich als Bestätigungsschreiben.[239] Ein Bescheid, mit dem die Verwaltung über den Widerspruch befindet, muss jedoch auch im Rahmen des ungeregelten Widerspruchsverfahrens den vom Gesetz vom 29. Juli 1991 über die förmliche Begründung von Verwaltungsakten vorgesehenen Vorschriften entsprechen.
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Im Gegensatz hierzu ist die Behörde im Rahmen eines geregelten Widerspruchsverfahrens verpflichtet, eine Entscheidung über den Widerspruch zu treffen.[240] Ist ein Widerspruchsverfahren vorgesehen, so muss dieses vom Bürger beschritten und erschöpft werden, bevor er zulässigerweise den Staatsrat anrufen kann: „Einem Klagerecht, das dem Betroffenen offensteht, entspricht eine Handlungspflicht.“[241] Geregelte Widerspruchsverfahren sind daher einem Verwaltungsgerichtsprozess zwingend vorgeschaltet. Gesetzlich vorgesehen sind sowohl die Zulässigkeitsvoraussetzungen als auch die Fristen; auch wird die zuständige (Widerspruchs-)Behörde bezeichnet. Darüber hinaus ist das Verfahren allerdings