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Damit können auch die ordentlichen Gerichte die Folgen einer rechtswidrigen Verwaltungsmaßnahme begrenzen.[150] Diese Anordnungsbefugnis gegenüber den Behörden unterliegt jedoch Grenzen: „Auch wenn keine Einmischung der Gerichte in die Ausübung der von Gesetzes wegen der zuständigen Behörde vorbehaltenen Befugnisse vorliegt, wenn die Gerichte zur vollständigen Wiederherstellung der Rechtsgüter des Geschädigten eine Wiedergutmachung durch Naturalrestitution anordnen und der Verwaltung Maßnahmen zur Beseitigung der schädigenden und rechtswidrigen Umstände auferlegen, so untersagt ihnen doch der allgemeine Rechtsgrundsatz der Gewaltenteilung, außerhalb dieser Fallkonstellation Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung zu erlassen und Rechtsakte der Verwaltungsbehörden abzuändern oder aufzuheben.“[151] Ob jede Rechtswidrigkeit grundsätzlich gleichbedeutend mit einem Verschulden ist, wird in der Rechtslehre und Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt.[152]
b) In Bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit (insbesondere bezüglich Normenkontrolle und Wahlanfechtungen)
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Der Verfassungsgerichtshof ist zuständig für die Normenkontrolle von Gesetzen der Föderation und der föderierten Teilgebiete. Dabei sind Prüfungsmaßstab die Kompetenzzuweisungsvorschriften, die von Titel II der Verfassung geschützten Grundrechte und Grundfreiheiten (Art. 8 bis 32 Belg. Verf.), der Grundsatz der Bundestreue (Art. 143 § 1 Belg. Verf.), der Grundsatz, dass Steuern nur durch ein Gesetz erhoben werden dürfen (Art. 170 Belg. Verf.), der Grundsatz der Steuergleichheit (Art. 172 Belg. Verf.) und das Prinzip des Schutzes der in Belgien befindlichen Ausländer (Art. 191 Belg. Verf.). Durch Normenkontrollverfahren wurden auch die Zuständigkeiten des Staatsrates sowie der Zugang zu diesem, insbesondere auf Grund des Gleichheitsgrundsatzes, beeinflusst. Beispielsweise hat der Verfassungsgerichtshof 1996 eine rechtswidrige Ungleichbehandlung zwischen den Beamten der parlamentarischen Versammlungen und denjenigen der Verwaltungsbehörden festgestellt, insofern es Ersteren grundsätzlich verwehrt war, die von der einschlägigen parlamentarischen Versammlung erlassenen Verwaltungsmaßnahmen dem Staatsrat zur Prüfung vorzulegen. Daraufhin wurde die Zuständigkeit des Staatsrates durch ein Gesetz vom 25. Mai 1999 erweitert,[153] um diese ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zu beseitigen.
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Darüber hinaus wurden auch die Zuständigkeiten des Kassationshofes in Ansehung der Beurteilung der vom Staat geschaffenen Organe durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes beeinflusst und verfeinert. Prüft der Verfassungsgerichtshof die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so kann er gleichzeitig würdigen, ob eine durch Gesetz geschaffene Einrichtung den Charakter eines Gerichtes hat oder nicht. Beispielsweise entschied der Verfassungsgerichtshof (damals: Schiedshof), dass die Überprüfungsinstanz in Fragen der Sicherheitsüberprüfung[154] ein unabhängiges Verwaltungsgericht darstellt.[155] Damit hat, beobachtet Nicolas Banneux, „der Schiedshof eine Rechtsprechung entwickelt, die nicht einen Kompetenzkonflikt löst (Abgrenzung der Zuständigkeiten des Kassationshofes), sondern die Verfassungsmäßigkeit der Zuweisung (oder Nichtzuweisung) einer Zuständigkeit für bestimmte Rechtsstreitigkeiten an eine der Gerichtsbarkeiten prüft“.[156]
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Durch das Bestehen der Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch der Gesetzgeber darin beschränkt, nach eigenem Ermessen Streitsachen zu bestimmten Rechtsgütern durch Deklarierung derselbigen als politische Rechte einer bestimmten Gerichtsbarkeit zuzuweisen. Vielmehr „obliegt [es] dem Verfassungsgerichtshof, zu prüfen, ob der Gesetzgeber zu Recht stillschweigend davon ausgehen durfte, dass die betreffenden Rechte politische Rechte seien“[157]. In dieser Entscheidung hat der Verfassungsgerichtshof die „politischen Rechte“ näher definiert und sie als Rechte umschrieben, die im Zusammenhang mit hoheitlichen Befugnissen oder mit der Daseinsvorsorge stehen.[158]
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In Wahlanfechtungsfragen hat der Staatsrat die Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung von Beschwerden über Gemeinde- und Provinzialwahlen (Art. 16 Abs. 1 Nr. 1o KGSR). Als Berufungsinstanz gegen Entscheidungen der jeweiligen für Wahlprüfungsbeschwerden zuständigen Kollegien in den Regionen Wallonien, Brüssel und Flandern verfügt die Verwaltungsgerichtsbarkeit dabei praktisch über dieselben Befugnisse wie die ordentliche Gerichtsbarkeit; sie nimmt eine umfassende Gesamtwürdigung des ihr vorgelegten Sachverhalts vor.[159] Im Zuge der Verfassungsänderung vom 6. Januar 2014[160] wurde hingegen dem Verfassungsgerichtshof die Zuständigkeit für weitere Rechtsstreitigkeiten übertragen, insbesondere mit Blick auf die Beschlüsse der Abgeordnetenkammer oder ihrer Gremien in Fragen der Überprüfung der Wahlkampfausgaben für Wahlen zur Abgeordnetenkammer.[161] Der Staatsrat ist im Rahmen dieser Beschwerden somit nicht zuständig.
c) Verfassungsdimension der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Bedeutung der Grundrechte in der Verwaltungsrechtsprechung
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Eine bedeutende Rolle[162] spielt die Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates bei der allgemeinen Würdigung der Verfassungsmäßigkeit der ihr vorgelegten Gesetzesentwürfe und -vorschläge sowie der Entwürfe für Dekrete und Gesetzerlasse.[163] Die von ihr erstellten Gutachten können als „Gesetzessprechung“ (légisprudence) bezeichnet werden. Obwohl nicht all diese Entwürfe der Gesetzgebungsabteilung zur Einholung eines Gutachtens vorgelegt werden müssen, nimmt der Staatsrat auch zu Entwürfen für königliche Erlasse, Regierungserlasse und Ministerialerlasse Stellung. Grundsätzlich sind nur die Entwürfe für Dekrete, Gesetzeserlasse und Rechtsverordnungen, d.h. für verbindliche Rechtsnormen mit allgemeiner Geltung, vorzulegen.
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Im Gegensatz hierzu wacht die Verwaltungsstreitsachenabteilung des Staatsrates über die Vereinbarkeit von Verordnungen und Verwaltungsmaßnahmen mit dem Verfassungsrecht (einschließlich der Grundrechte und Grundfreiheiten).[164] Dabei ist zu unterscheiden, ob bereits das Gesetz, das die ausführende Gewalt zum Erlass einer Verwaltungsmaßnahme ermächtigt, oder lediglich der Erlass derselbigen selbst verfassungswidrig ist. Im ersten Fall muss der Staatsrat auch die der erlassenen Verwaltungsmaßnahme zugrunde liegende Gesetzesnorm selbst mittelbar hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit überprüfen; im zweiten Fall besteht ein weiterer Bewertungsspielraum.[165]
d) Zuständigkeitskonflikte zwischen den Gerichtsbarkeiten
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Gem. Art. 158 Belg. Verf. wacht der Kassationshof (als oberstes ordentliches Gericht) über die Einhaltung der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Gerichten und entscheidet hierüber bei Streitigkeiten zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und den anderen Gerichtsbarkeiten. Seiner Auffassung zufolge ist „einzig der Kassationshof zuständig, über Zuständigkeitskonflikte zu befinden. Diese ihm von der Verfassung zugewiesene Aufgabe besagt, dass er eine Kontrollfunktion über die jeweiligen Zuständigkeiten der ordentlichen Gerichtsbarkeit und des Staatsrates ausübt.“[166] Damit sieht Belgien – anders als Frankreich[167] – kein ad-hoc-Gericht in Form eines Kompetenzkonflikthofes vor. Gemäß den KGSR entscheidet somit der Große