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Die Überprüfung von Verwaltungshandeln durch die ordentlichen Gerichte erfolgte weiterhin nur ausgesprochen begrenzt. Diese geschah ausschließlich in denjenigen Fällen, in denen die Verwaltung wie eine privatrechtliche Person agierte,[62] was in der Folge als „Selbstverstümmelung der rechtsprechenden Gewalt“[63] bezeichnet wurde. Eine etwaige Verantwortung staatlicher Stellen gegenüber dem Einzelnen war 1902 nach wie vor eine unstatthafte Frage: „Die Behauptung, jedes persönliche Opfer des Einzelnen zugunsten aller Bürger bedürfe zwangsläufig und ausnahmslos einer Entschädigung durch die Allgemeinheit, führt gerade nicht zur Anerkennung eines behaupteten natürlichen Rechtes als vielmehr zu einer Verkennung der grundlegenden Voraussetzungen für die soziale Ordnung und den Bestand der Nationen.“[64]
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In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Belgien tiefgreifende Reformen eingeleitet. Vielfach wurde kritisiert, dass in der Zeit des gerade errungenen allgemeinen Wahlrechts eine echte Verwaltungsgerichtsbarkeit fehlte. Auch war die fehlende Verantwortlichkeit der Verwaltung für ihre hoheitlichen Handlungen nicht mehr haltbar.
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Im belgischen Zivilrecht war in dieser Hinsicht das La Flandria-Urteil vom 5. November 1920[65] ein entscheidender Meilenstein. In diesem wurde die Stadt Brügge dazu verurteilt, den Schaden auszugleichen, der durch einen auf kommunalem Grund umgestürzten Baum an den Pflanzen eines Gärtnereibetriebes entstanden war. Die konkreten Auswirkungen dieses Urteils blieben jedoch zunächst begrenzt. Es sollte nämlich noch bis 1963 dauern, bevor der Kassationshof erstmals feststellte, dass die Verwaltung durch den Erlass einer Verwaltungsmaßnahme eine rechtswidrige Handlung vorgenommen habe,[66] und erst 1980 entschied er, dass es den ordentlichen Gerichten obliege, die Verwaltung zur Wiedergutmachung eines durch ihr Fehlverhalten entstandenen Schadens durch Naturalrestitution zu verurteilen, sofern eine solche möglich ist und nicht auf der missbräuchlichen Ausübung eines Rechtes beruht.[67] Nichtsdestotrotz stellte bereits das La Flandria-Urteil den Anstoß für eine Haftung des Staates dar.
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Bezüglich des politischen Kontexts des La Flandria-Urteils ist anzumerken, dass die Regierung in dieser Zeit ein Änderungsvorhaben hinsichtlich der Art. 25, 105 und 106 Belg. Verf. (damals Art. 33, 157 und 158) verfolgte. Auf diese Weise wollte sie die Errichtung einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit ermöglichen, mit einem Staatsrat, der nach französischem Vorbild an der Ausarbeitung der Gesetze beteiligt gewesen wäre, zugleich aber auch Zuständigkeiten für Verwaltungsstreitsachen inne gehabt hätte. Die Debatte in den Ausschüssen der Abgeordnetenkammer[68] und des Senats[69] war lebhaft, wobei beide einer Verfassungsänderung, durch die die Einrichtung einer solchen Gerichtsbarkeit ohne weitere Maßnahme des Gesetzgebers ermöglicht worden wäre, sehr reserviert gegenüberstanden. Zumindest dem Anschein nach war ja durch das La Flandria-Urteil[70] das Problem der Entschädigungsansprüche insoweit bereits ausgeräumt worden, als der Kassationshof „den Gerichten die von diesen zuvor abgelehnte, vollständige Gerichtsbarkeit zurückgegeben hatte“[71]. 1921 wurde dieses Vorhaben der Errichtung eines Staatsrates mangels der hierfür notwendigen qualifizierten Mehrheit aufgegeben,[72] die Idee lebte allerdings in der Rechtslehre fort.
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Während der damaligen Krise der belgischen Verfassungsordnung[73] veröffentlichte Henri Velge, späterer Präsident des Staatsrates, 1930 das Werk „L’Institution d’un Conseil d’État en Belgique“.[74] Im selben Jahr legte Graf Carton de Wiart der Abgeordnetenkammer einen Gesetzesvorschlag zur Schaffung eines Verwaltungsgerichtshofs vor, der jedoch wegen der Auflösung des Parlaments hinfällig wurde. Am 26. Januar 1934 brachte Graf Carton de Wiart, unterstützt von König Albert, seinen Vorschlag ein weiteres Mal ein, scheiterte jedoch auch diesmal aus denselben Gründen.
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Dennoch ging die Debatte weiter, gerade auch in der Rechtslehre. In diesem Sinne trafen sich beispielsweise die Rechtswissenschaftlichen Fakultäten der vier belgischen Universitäten[75] auf Initiative der Universität Lüttich, um die Errichtung eines für Verwaltungsstreitsachen zuständigen Organs zu diskutieren und einen Vorschlag für ein Gesetzesvorhaben zum Aufbau eines Verwaltungsgerichtshofes zu erarbeiten.[76]
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1937 wurde die Bildung eines Staatsrates Teil des Programms der Regierung Van Zeeland. Zu diesem Zweck wurde ein außerparlamentarischer Ausschuss unter dem Vorsitz von Henri Rolin, Mitglied des Kassationshofes, eingesetzt. Am 24. März 1937 wurde beim Präsidium der Abgeordnetenkammer ein Gesetzesentwurf eingereicht und der dritte Vorstoß von Graf Carton de Wiart als Anhang beigefügt. Die Abgeordnetenkammer verabschiedete diesen Gesetzesentwurf am 12. April 1938, der Senat folgte am 5. Juli 1939, wobei dieser den Umfang der Befugnisse des Gerichtshofes ausdehnte, insbesondere bezüglich der Frage der Anfechtungsstreitigkeiten.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der abgeänderte Gesetzentwurf von der Abgeordnetenkammer am 20. Dezember 1945 und vom Senat am 11. Dezember 1946 angenommen und das Gesetz vom 23. Dezember 1946 über die Einrichtung eines Staatsrates verabschiedet.[77] Es trat gemäß Erlass des Regenten vom 21. August 1948 am 23. August 1948 in Kraft. Mehrere Durchführungsverordnungen wurden noch am selben Tag erlassen, so unter anderem der Erlass des Regenten über das Verfahren vor der Abteilung für Verwaltungssachen des Staatsrates (VVerwSSRE)[78].
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Das erste Gutachten der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates wurde am 21. September 1948 veröffentlicht, die ersten Entscheidungen der Abteilung für Verwaltungssachen (heute: Verwaltungsstreitsachenabteilung) ergingen am 8. November 1948.
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › II. Entstehungsgeschichte und Entwicklung › 2. Wichtigste Entwicklungen und Krisen bzw. Konflikte
2. Wichtigste Entwicklungen und Krisen bzw. Konflikte
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Der Rechtsrahmen, in den die Institution Staatsrat eingebettet ist, unterlag in den folgenden Jahrzehnten einer stetigen Weiterentwickelung. Durch Gesetz vom 11. Juni 1952[79] wurde das bisherige Erfordernis bereits abgeleisteter Berufsjahre, die ein im Rechtsanwaltsverzeichnis der Anwaltskammer eingetragener Rechtsanwalt tätig sein musste, damit er als Beistand oder Vertretung einer Streitpartei vor dem Staatsrat auftreten durfte, gestrichen. Zwei Jahre später – am 18. März 1954[80] – schuf man die Möglichkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens. Des Weiteren traf ein Gesetz vom 15. April 1958[81] Regelungen über die Gerichtssprachen. Dasselbe Gesetz bestimmte, dass die Mitglieder des Auditorats am Ende der Verhandlung in Verwaltungsstreitsachen ein Gutachten abzugeben haben.
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Besonders hervorzuheben ist die weitere Veränderung des Staatsrates infolge eines Gesetzes vom 3. Juni 1971.[82] Durch dieses wurde zum einen die Zuständigkeit für Entschädigungssachen novelliert, die bislang, wie André Mast feststellte, der „Unergiebigkeit und dem Dahinsiechen“[83] überlassen waren. Fortan hatte der Staatsrat diesbezüglich Spruchkompetenz, statt zu solchen Fragen lediglich ein Gutachten erstellen zu können. Zum andern wird seitdem das Schweigen der Verwaltung als ablehnender Entscheid betrachtet, gegen den Klage erhoben werden kann – ein weiterer wichtiger Entwicklungsschritt. Schließlich sind die Verwaltungsgerichte von nun an an eine vom Staatsrat entschiedene Rechtsauslegung gebunden.
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Sämtliche Gesetze über den Staatsrat, die nach dessen Errichtung verabschiedet wurden, wurden schließlich