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Der Staatsrat wagte sich nach und nach auch auf rechtspolitisches Gebiet vor, u.a. bei den Konflikten zwischen den Sprachgemeinschaften (insbesondere in Voeren [frz. Fourons] und Gemeinden der Brüsseler Peripherie).[85] Im August 1978 legte beispielsweise die Gesetzgebungsabteilung der Regierung Tindemans mehrere Gutachten zum Gesetzentwurf Nr. 461 über eine Institutionenreform (sog. Egmont-Stuyvenberg-Entwurf, durch den zwei politische Übereinkommen bzgl. der Reform des Staates, durch die drei Regionen geschaffen wurden, institutionell verankert werden sollten) vor. Darin formulierte der Staatsrat verfassungsrechtliche Bedenken bzgl. einiger Bestimmungen, die französischsprachigen Einwohnern der Brüsseler Peripherie das Recht zustanden, durch die Wahl eines fiktiven Wohnsitzes in einer der Brüsseler Gemeinden bestimmte öffentliche Rechte gegenüber der Verwaltung ausüben zu können.[86] Die Reaktionen der Presse und der Regierungsparteien führten zum Rücktritt des Premierministers.[87]
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Da sich Belgien zunehmend zu einem föderalen Staat mit zentrifugalen Kräften entwickelte, übertrug das Institutionenreformgesetz vom 9. August 1980[88] der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates die Aufgabe, Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Staat und den föderierten Teilgebieten (Gemeinschaften und Regionen) vorzubeugen. Zuständigkeitskonflikte zwischen dem Regelungsbereich von Bundesgesetzen und Dekreten sollten ursprünglich durch eine Abteilung für Zuständigkeitskonflikte geklärt werden. Diese wurde jedoch niemals eingerichtet; mit Verfassungsergänzungsgesetz vom 28. Juni 1983 wurde an deren Stelle der Schiedshof (heute: Verfassungsgerichtshof) geschaffen (Art. 142 Belg. Verf. [früher: Art. 107ter]).
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Der Staatsrat erhielt durch Art. 15 des Gesetzes vom 16. Juni 1989 über verschiedene Reformen der Institutionen[89] die Befugnis, den Vollzug einer Verwaltungsmaßnahme auszusetzen, sofern vom Kläger vorgebracht wird, Art. 10, 11 oder 24 Belg. Verf. (früher: Art. 6, 6bis und 17) seien verletzt. Ein allgemeines vorläufiges Rechtsschutzverfahren für Verwaltungssachen wurde durch das am 22. Oktober 1991 in Kraft getretene Gesetz vom 19. Juli 1991 zur Änderung der koordinierten Gesetze über den Staatsrat[90] eingeführt. Seither sind Anträge auf Aussetzung des Vollzugs einer Verwaltungsmaßnahme auch aus weiteren ernstzunehmenden Gründen möglich. Erforderlich war im Rahmen dieses allgemeinen vorläufigen Rechtsschutzverfahrens zunächst allerdings, dass der Kläger belegte, dass ihm ein schwerer und nur schwer wiedergutzumachender Schaden drohte. Diese Voraussetzung wurde 2014 durch ein Dringlichkeitserfordernis ersetzt. Auch der Begriff der „Dringlichkeit“ ist jedoch ein „einem ständigen Wandel unterworfener Begriff […], der im Zusammenhang mit der üblichen Verfahrensdauer bei Nichtigkeitsklagen zu betrachten ist“[91].
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Diese Reform war eine Reaktion auf in der Rechtslehre geäußerte Kritik, die das fehlende Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Verwaltungsgerichtsverfahren bemängelt hatte. Das Erfordernis einstweiligen Rechtsschutzes ergibt sich daraus, dass zugunsten der Verwaltung die Vermutung der Rechtmäßigkeit ihrer Maßnahmen eingreift, die sie zudem durch Zwangsmaßnahmen durchsetzen kann. Ein Rechtsschutz in der Hauptsache kann daher nicht immer rechtzeitig erfolgen. Beispielsweise erklärte der Staatsrat am 11. Februar 1977 zwei rechtswidrige Erlasse des ständigen Ausschusses des Provinzialrates von Brabant vom 19. und 26. Juni 1975, die zwei Rennen einschließlich Vorbereitungstraining auf der Rennstrecke Nivelles-Baulers genehmigt hatten, erst lange nach der bereits tatsächlich erfolgten Durchführung der Rennen für nichtig.[92] Zwar gewährten die ordentlichen Gerichte zu dieser Zeit bereits einstweiligen Rechtsschutz, um Rechtsnormen der ausführenden Gewalt nicht anzuwenden (dies zunächst nur in Fällen offensichtlich rechtswidriger Maßnahmen, anschließend in zunehmend allgemeinerer Weise[93]). Dennoch blieb das System des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Verwaltungsmaßnahmen lange widersprüchlich, auch wenn das Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise, den Aufenthalt, die Niederlassung und die Ausweisung von Ausländern dem Staatsrat erstmalig die Möglichkeit eröffnete, in dem sehr begrenzten Gebiet des Asylrechts eine Verwaltungsmaßnahme auszusetzen.
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1993 wurde der Begriff der „Verwaltungsgerichtsbarkeit“ endlich auch im Text der Verfassung (Art. 161) verankert.[94] Auch das Bestehen und die Aufgaben des Staatsrates bekräftigte der Verfassungsgesetzgeber in Art. 160 Belg. Verf.
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Die Verwaltungssachenabteilung wurde durch Gesetz vom 15. September 2006[95] in Verwaltungsstreitsachenabteilung umbenannt. Dieses Gesetz richtete – und dies ist bemerkenswert – auch ein Gericht für Ausländerrechtsstreitsachen ein.[96] Auch in Belgien steigt die Anzahl der Verwaltungsstreitsachen – wie in vielen westlichen Staaten – kontinuierlich an. Dies hat eine stetig steigende Dauer der anhängigen Verfahren zur Folge. Gleichzeitig gab es eine Reihe von Verurteilungen des belgischen Staates durch belgische Gerichte[97] und den EGMR wegen überlanger Verfahrensdauern. Ein Geschäftsbericht betonte 1996 den „erheblichen Anstieg der Begutachtungsanträge innerhalb der vergangenen fünf Jahre sowie, in noch viel stärkerem Maße, der Nichtigkeitsklagen und Aussetzungsanträge“. Dies war insbesondere auf die massive Zunahme der Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Ausländerrechts zurückzuführen.[98] Die Schaffung eines Gerichts für Ausländerrechtsstreitigkeiten ist daher im Wesentlichen eine Antwort auf die erhebliche Überlastung des Staatsrates mit derartigen Streitigkeiten. Seit dem Reformgesetz des 19. Juli 1991, durch das ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Staatsrat geschaffen wurde,[99] ist das Gesetz vom 15. September 2006 zweifelsohne die bedeutendste Reform.[100]
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Auch das Revisionsverfahren vor dem Staatsrat wurde grundlegend novelliert, zunächst durch das bereits erwähnte Gesetz vom 15. September 2006,[101] des Weiteren durch einen königlichen Erlass vom 30. November 2006.[102]
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Ein Gesetz vom 23. Dezember 2009[103] ergänzte das Gesetz vom 24. Dezember 1993 über Aufträge der öffentlichen Hand und bestimmte öffentliche Bauleistungs-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge um einen zusätzlichen Abschnitt zu Begründungs- und Informationspflichten sowie verfügbaren Rechtsmitteln und führte ein besonderes gerichtliches Verfahren für Verwaltungsmaßnahmen im Zusammenhang mit öffentlichen Aufträgen ein. Hierdurch wurde zum einen die generelle Anwendbarkeit der Vorschriften des Eilverfahrens auch auf derartige Fälle klargestellt. Zum anderen erfolgte 2014 die Streichung der im Eilverfahren bis dahin vorgesehenen Voraussetzung der Darlegung eines drohenden schweren und nur schwer wiedergutzumachenden Schadens. Des Weiteren ist die Vergabebehörde seither verpflichtet, zwischen der Vergabeentscheidung und deren Mitteilung an den Auftragnehmer eine Frist einzuhalten, die es den unterlegenen Bietern ermöglichen soll, den Staatsrat im Eilverfahren anzurufen.
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Auch die sechste Staatsreform führte zu einer Veränderung der Zuständigkeiten des Staatsrates. In Folge eines ersten Gesetzes vom 6. Januar 2014 über die sechste Staatsreform und die in Art. 77 der Verfassung aufgezählten Angelegenheiten[104] ist er fortan auch zuständig, privatrechtliche Folgen seiner Entscheidungen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage festzulegen, sofern dem Kläger durch die Rechtswidrigkeit der für nichtig erklärten Maßnahme ein Schaden entstanden ist. Eine umfassende Novellierung des Verfahrens und der Zuständigkeiten des Staatsrates erfolgte darüber hinaus durch Gesetz vom 20. Januar 2014[105]. In den Worten von Geert Debersaques und Frederic Eggermont stellt dieses Gesetz „die größte Reform des Staatsrates seit den großen (strukturellen) Änderungen durch das Gesetz vom 15. September 2006“[106] dar. Zu den erfolgten Änderungen zählt insbesondere, dass fortan eine Anrufung des Ombudsmanns die Frist für eine Klage vor dem Staatsrat hemmt,[107] dass eine nichtige Verwaltungsmaßnahme geheilt werden kann, d.h. dass im Rahmen eines Verwaltungsprozesses der beklagten Behörde die Möglichkeit eingeräumt wird, einen festgestellten Mangel