§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit
III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 1. Objektiver oder subjektiver Rechtsschutz bzw. Schutz individueller Rechte oder des öffentlichen Interesses?
1. Objektiver oder subjektiver Rechtsschutz bzw. Schutz individueller Rechte oder des öffentlichen Interesses?
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1949 erhielt der Staatsrat ausdrücklich die Zuständigkeit, in rein objektiven Rechtsstreitigkeiten Nichtigkeitserklärungen auszusprechen. Ursprünglich war für eine Anrufung des Staatsrates also keine subjektive Rechtsverletzung erforderlich.[110] Das Interesse an der Einhaltung des objektiven Rechts durch die Verwaltung war ausreichend,[111] sodass der Fokus des Verfahrens vor dem Staatsrat auf formalen Aspekten und nicht auf dem Schutz individueller Rechtspositionen lag.[112] Somit ist die Nichtigkeitsklage nach Art. 14 § 1 KGSR ein Verfahren zur Prüfung der objektiven Rechtmäßigkeit einer Verwaltungsmaßnahme. Die Nichtigkeitserklärung einer Verwaltungsmaßnahme als Ergebnis eines solchen Verfahrens stellt von Verfassungs wegen keine Wiedergutmachung für die Verletzung eines subjektiven Rechts in Form der Naturalrestitution dar. Vielmehr markiert sie allein das Ende des Gerichtsprozesses gegen die konkrete Verwaltungsmaßnahme. Damit ordnet das Gesetz, anders formuliert, objektive Rechtsstreitigkeiten, welche die Rechtmäßigkeit oder die Einhaltung der Normen des objektiven Rechts zum Gegenstand haben, generell den Verwaltungsgerichten zu.
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Mittlerweile setzt die Nichtigkeitsklage allerdings voraus, dass der Kläger ein individuelles Interesse an der Nichtigkeitserklärung des angegriffenen Aktes besitzt. Dieses Rechtsschutzinteresse ist „im Zusammenhang mit der Art des angefochtenen Rechtsaktes und der sich aus dieser Art ergebenden Rechtsfolgen zu würdigen“[113]. Somit sind Klagen im reinen Allgemeininteresse ausgeschlossen. Der Staatsrat hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass „[die] Zulässigkeit einer Klage vor der Würdigung der Klagegründe zu prüfen ist. Dass ein zur Bekräftigung der Klage vorgetragener Beschwerdegrund [im Rahmen der Begründetheit] von Amts wegen zu prüfen ist, […] hat keine Auswirkungen auf die Frage des Rechtsschutzinteresses des Klägers im Rahmen der Zulässigkeit. Andernfalls müsste immer, wenn eine Klage einen von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkt anführt, eine Popularklage zugelassen werden.“[114]
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Somit muss stets ein Rechtsschutzinteresse dargelegt werden, damit eine Nichtigkeitsklage zulässig ist. Vor 2014 genügte für die automatische Herbeiführung einer Nichtigkeitserklärung des angegriffenen Rechtsaktes, sofern ein derartiges Rechtsschutzinteresse nachgewiesen wurde, bereits die alleinige Berufung auf einen von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkt. Der Staatsrat hatte nämlich entschieden, dass „der Kläger sein Interesse an der Geltendmachung eines von Amts wegen zu berücksichtigenden Gesichtspunktes nicht zu belegen“[115] braucht. Nach der Reform von 2014 muss er jedoch das Rechtsschutzinteresse des Klägers für jeden einzelnen Punkt prüfen. Somit bedarf es also auch eines besonderen Rechtsschutzinteresses bezüglich der von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkte. Ein von einem Verband oder einer Vereinigung vorgebrachtes Kollektivinteresse genügt allerdings.[116]
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Trotz des objektiven Rechtsschutzcharakters der Nichtigkeitsklage finden auch die subjektiven Rechte des Klägers Berücksichtigung. Zum einen schützt Art. 11 KGSR durch die Möglichkeit eines Entschädigungsgesuchs das Rechtsschutzinteresse von Privatpersonen. Hierfür wird eine Abwägung zwischen den Rechtspositionen der geschädigten Einzelpersonen und den Bedürfnissen der Öffentlichkeit vorgenommen: „Ist kein anderes Rechtsprechungsorgan zuständig, befindet die Verwaltungsstreitsachenabteilung nach Billigkeit und unter Berücksichtigung aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses durch Urteil über Klagen auf Ersatz der außergewöhnlichen, von einer Verwaltungsbehörde verursachten immateriellen oder materiellen Schäden.“ Auch hierbei geht es jedoch streng genommen nicht um die Durchsetzung eines subjektiven Rechts, denn der Behörde wird keinerlei Fehlverhalten zur Last gelegt.[117]
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Gleiches gilt für den neu eingefügten Art. 11bis KGSR. Dieser bestimmt, dass „[j]ede klagende oder beitretende Partei, die in Anwendung von Art. 14 § 1 oder § 3 eine Klage zur Erklärung der Nichtigkeit eines Aktes, einer Verordnung oder einer stillschweigenden Abweisungsentscheidung einleitet, […] die Verwaltungsstreitsachenabteilung ersuchen [kann], ihr durch Urteil eine Entschädigung zu Lasten des erlassenden Organs unter Berücksichtigung aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses zu gewähren, wenn dieser Partei infolge der Rechtswidrigkeit eines Aktes, einer Verordnung oder einer stillschweigenden Abweisungsentscheidung ein Nachteil entstanden ist.“
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Damit besteht für den von einer Verwaltungsmaßnahme Geschädigten die Möglichkeit der Erlangung einer Entschädigung, ohne zuvor den Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten beschreiten zu müssen Dies greift die Lehren aus dem La Flandria-Urteil[118] des Kassationshofes wieder auf. Die Entschädigung gem. Art. 11 und 11bis KGSR unterscheidet sich jedoch vom Schadensersatz nach Art. 1382 Code civil (klassische zivilrechtliche außervertragliche Haftung) insofern, als sie vom Staatsrat unter Berücksichtigung „aller Umstände des öffentlichen und privaten Interesses“ nach Ermessen festgelegt wird. Eine Partei, die vor dem Staatsrat um Entschädigung ersucht, kann keine Schadensersatzklage vor den Zivilgerichten für die Wiedergutmachung desselben Schadens mehr erheben.[119]
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › III. Funktion und Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 2. Verwaltungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, Verhältnis zu politischen Staatsorganen und zur Verwaltung
2. Verwaltungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, Verhältnis zu
politischen Staatsorganen und zur Verwaltung
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Der Gewaltenteilungsgrundsatz bildete ursprünglich, und über viele Jahrzehnte hinweg, den grundlegenden Ausgangspunkt des gesamten belgischen Verwaltungsprozessrechts und begründete die zurückhaltende Haltung des (Verfassungs-)Gesetzgebers bzgl. der Schaffung eines Staatsrats. Eine solche Institution war historisch doch (zu) eng mit der ausführenden Gewalt verwoben, denn in der damaligen Zeit lautete ein weitverbreiteter Grundsatz, dass „über das Handeln der Verwaltung zu richten, […] noch verwalten“[120] sei. Dies wurde durch ein Urteil des Appellationshofes Brüssel vom 14. August 1845 noch bekräftigt: „Eine Anordnung durch die rechtsprechende Gewalt, die einen Akt der Vormachtstellung einer der Gewalten gegenüber einer der anderen bedeutete, würde zu einem Übergriff in die Domäne oder die Zuständigkeiten dieser anderen Gewalt führen.“[121]
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Der Staatsrat ist im Staatsgefüge mit zahlreichen Aufgaben betraut; in ihm kreuzen sich gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt. Zwar ist er kein Organ der föderalen ausführenden Gewalt im engeren Sinne; allerdings besteht zu dieser eine enge natürliche und offensichtliche institutionelle Verbindung.[122] Das Studienzentrum für die Reform des Staates proklamierte, dass „[d]er zukünftige Gerichtshof für