Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s.u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor- und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.

      W.WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2.1), 81–154; J.SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s.o. 1), 17–44; I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A.FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.

      William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H.Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen (Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Bewusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftlichen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Standpunkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Prediger und nicht als Wissenschaftler14. Auch G.Theißen orientiert sich ausdrücklich am Programm von W.Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat15: 1) Die Distanzierung gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Kanonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4) die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im konfessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die These: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“16 Dieser semiotische Ansatz betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundlegend bestimmt (s.u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklichkeit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; sowohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität zum jüdischen Zeichensystem vollzog.

      Bietet eine religionswissenschaftliche Betrachtungsweise eine neutrale Außenperspektive, die unvoreingenommen und ohne ideologische Fesseln ihre Gegenstände analysiert? Diese Frage muss aus mehreren Gründen eindeutig negativ beantwortet werden: 1) Die geschichts- und identitätstheoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine von der eigenen Lebensgeschichte abstrahierende, ‚neutrale‘ Position einzunehmen (s.o. 1.1). Das Wertfreiheits- und Neutralitätspostulat, das z.B. häufig von Religionswissenschaftlern gegen Theologen vorgebracht wird, ist ein ideologisches Instrument, um andere Positionen unter Verdacht zu stellen17. Es gibt kein positionelles Niemandsland; weder methodisch noch lebensgeschichtlich ist es möglich, die eigene Geschichte mit all ihren Wertungen auszublenden. 2) Ein zentrales Element der eigenen Lebensgeschichte ist die Frage nach und das Verhältnis zu Gott. Wer nicht an Gott glaubt, bringt diese Vorgabe notwendigerweise und selbstverständlich ebenso in seine Arbeit ein wie der, der an Gott glaubt. Die Forderung, die Welt aus der Welt ohne Gott zu erklären, ist keineswegs ein ‚Objektivitätskriterium‘, sondern ihrem Wesen nach ein lebensgeschichtlich bedingtes Wollen, ein Willensakt, eine Setzung18. Die Nicht-Existenz Gottes ist ebenso eine Vermutung wie seine Existenz! Das Wollen und die Setzungen anderer sind kein hinreichender Grund, dass der Theologe bei seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit den Gottesgedanken ausblendet. Alle historische Arbeit ist unausweichlich in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang eingefügt, so dass die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit gerade nicht als Gegensatz aufgefasst werden muss. „Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich … im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese. Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.“19 Um Geschichte schreiben zu können, bedarf der Theologe/Religionswissenschaftler einer Theorie der Geschichte, die lebensgeschichtlich erworbene religiöse, kulturelle und politische Wertungen weder ausschließen soll noch kann. 3) Religiöse Bewegungen und ihre Texte lassen sich nur adäquat erfassen, wenn man in ein Verhältnis zu ihnen tritt. Jeder Interpret steht in einem solchen Verhältnis, das gerade nicht mit der ideologischen Unterstellung von Innen- und Außenperspektive erfasst werden kann. Vielmehr verdankt es sich sowohl der jeweiligen Lebensgeschichte des Interpreten als auch den methodischen Vorentscheidungen und Fragestellungen, mit denen er an die Texte herantritt. Es geht nicht um Neutralität, die der eine beansprucht und der andere angeblich nicht erbringen kann, sondern allein um eine den Texten angemessene Fragestellung und Methodik. Wenn religiöse Texte die Wahrheitsfrage thematisieren, dann ist ein Ausweichen als Zeichen angeblicher Neutralität überhaupt nicht möglich, weil jeder Interpret immer schon in einem Verhältnis zu den Texten und den in ihnen ausgesprochenen Positionen steht. Hier vollzieht sich wiederum, was schon bei der religionsgeschichtlichen Schule (W. Wrede) als großes Defizit anzusehen ist: Die Aufdeckung und Beschreibung der Historizität/Kontextualität der Normative (speziell des Kanons) führt zu theologischen Werturteilen und Distanzierungen von Inhalten, die weder identitätstheoretisch noch historisch oder theologisch gedeckt sind. 4) Die Kanonbildung und die mit ihr verbundene Selektion gilt vielfach als Ausweis des ideologischen Charakters des frühen Christentums. Ein Kanon ist jedoch historisch und theologisch kein Willkürakt, sondern ein natürlicher Faktor innerhalb der Identitätsbildung und Selbstdefinition einer religiösen Bewegung und als kulturelles Phänomen keineswegs auf das frühe Christentum beschränkt20. Weil Schriftlichkeit die Voraussetzung für das Überdauern einer Bewegung ist, kann eine Kanonbildung nicht als repressiver Akt aufgefasst werden, sondern stellt einen völlig natürlichen Vorgang dar. Nicht äußere (kirchliche) Entscheidungen, sondern primär innere Impulse führten zur Kanonbildung21. Darüber hinaus verkennt die Forderung einer Aufhebung der Kanonsgrenzen die sinnstiftende und normierende Funktion eines Kanons als Erinnerungsraum, den die Mitglieder einer Gruppe immer wieder betreten können, um Vergewisserung und Orientierung zu erlangen. Die