Weil es keine Außen- und/oder Innenperspektive gibt und die Preisgabe des Gottesbegriffes nicht ein Gewinn an Neutralität oder Wissenschaftlichkeit, sondern nichts anderes als eine Setzung und/oder die Anpassung an die Ideologie anderer ist, muss, darf und braucht die theologische Betrachtungsweise nicht durch eine religionswissenschaftliche Fragestellung ersetzt zu werden. Theologie und Religionswissenschaft sind weder besser noch schlechter, neutraler oder ideologischer, sondern sie fragen und arbeiten anders. Diese Andersartigkeit liegt in ihrem Gegenstand begründet, denn die Religionswissenschaft handelt von den kulturellen Erscheinungsformen der Religionen, die christliche Theologie von dem Gott, der sich in der Geschichte Israels und in Jesus Christus offenbart hat23.
R.BULTMANN, Theologie, 585–599; H.SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 323–344; G.STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 1–31; U.LUZ, Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E.Schweizer), hg. v. U.Luz/H.Weder, Göttingen 1983, 142–161; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 304–321; F.HAHN, Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, KuD 48 (2002), 240–260; TH. SÖDING, Einheit der Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.
Zu den zentralen Problemen der Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments zählt die Frage nach Vielfalt und Einheit. Unbestritten ist die historische und theologische Vielschichtigkeit der einzelnen ntl. Schriften. Die sich anschließende Sachfrage lautet: Gibt es eine darüber hinausgehende Einheit und wie lässt sie sich begründen/darstellen? Eine negative Antwort auf diese Frage gibt R.Bultmann; er votiert gegen eine ntl. ‚Dogmatik‘ und tritt für die Verschiedenheit der Entwürfe ein. „Es ist dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es eine christliche Normaldogmatik nicht geben kann, daß es nämlich nicht möglich ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, – die Aufgabe, die darin besteht, das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Mensch und Welt zu entwickeln. Denn diese Aufgabe gestattet nur immer wiederholte Lösungen oder Lösungsversuche in den jeweiligen geschichtlichen Situationen.“24 Die Gegenposition wird in vielfacher Form vertreten, wobei es zwei Grundmuster gibt: 1) Die Einheit des Neuen Testaments liegt in der Konzentration auf eine Person, einen Grundgedanken oder ein besonders eingängiges Argumentationsmuster. Von besonderer Bedeutung ist die Argumentation M.Luthers, der Jesus Christus als die ‚Mitte der Schrift‘ versteht: „Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3 unnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor 2. Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.“25 Von diesem Ansatz her gelangt Luther zu einer christologisch orientierten immanenten Bibelkritik, bei der besonders positiv das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief gewürdigt werden, negativ hingegen der Jakobusbrief, aber auch der Hebräer- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Der Ansatz Luthers wird in Variationen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein vertreten26. E. Käsemann sieht in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte der Schrift und aller christlichen Verkündigung. „Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist sie das Kriterium der Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.“27 Im Rahmen einer Biblischen Theologie erblickt P.Stuhlmacher in der Versöhnungsvorstellung die Mitte der Schrift: „Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johanneischen Schule durchgeistigte eine apostolische Evangelium von der Versöhnung (Versühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“28 2) Die Frage nach Vielfalt und Einheit wird nicht durch Konzentration auf Schlüsselbegriffe reduziert, sondern als eigenständiger und notwendiger Bestandteil der Theologie des Neuen Testaments begriffen. Nach H.Schlier ist die Aufgabe der Theologie erst dann geleistet, „wenn es nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen. Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll. Diese Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Voraussetzung, die mit der Inspiration und Kanonizität des N.T. bzw. der Heiligen Schrift zusammenhängt.“29 Diese Anregungen aufnehmend, rückt F.Hahn die Einheit des Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Theologie. Weil eine urchristliche Theologiegeschichte nur die Vielfalt ntl. Entwürfe aufzeigen kann, bedarf es im Rahmen eines thematischen Arbeitsganges des Aufweises der inneren Einheit des Neuen Testaments30. Auf der Basis des alt- und neutestamentlichen Kanons kommt als übergeordnete Leitkategorie dafür nur der Offenbarungsgedanke infrage. „Die Orientierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzusetzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesiologie zu behandeln.“31
Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der paulinischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zutrifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil 1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt32, 2) die Auferstehung eines Gekreuzigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist33. Das Christuszeugnis kann als eine Form der Pluralisierung des Alten Testaments verstanden werden, dies gilt aber ebenso für die Samaritaner, Qumran oder das rabbinische Judentum. Es gibt weder eine historisch noch theologisch notwendige Bewegung vom Alten Testament hin zum Neuen Testament, sondern nur die nachträgliche Postulierung einer solchen Entwicklung.
Gilt die Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe, stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbildung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschiedenen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen34?
Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung
Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Geschichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben35. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht identisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das Zeugnis der ntl. Schriften.