2) Die Theologie des Neuen Testaments hat wie alle anderen Wissenschaften teil an der vorgängigen Sinnhaftigkeit allen Seins, die wissenschaftliches Fragen und Erkennen als Sinnbildungsleistungen überhaupt erst ermöglicht.
3) Die Sinn-Kategorie ist in besonderer Weise geeignet, die Arbeit der ntl. Autoren zu erfassen, zu interpretieren und in ihrer gegenwärtigen Bedeutsamkeit darzustellen. Sie löst in keiner Weise den Theologie-Begriff ab55, sondern stellt ihn in einen weiteren hermeneutischen Kontext, um so weiterhin theologisches Verstehen zu ermöglichen.
4) Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar; sie wurden von den ntl. Autoren in unterschiedlicher Weise erbracht, indem sie die Jesus-Christus-Geschichte aus ihrer je eigenen Perspektive und in ihrer je eigenen Art für ihre Gemeinde erzählten.
5) Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments ist es, diese Sinnbildungsleistungen zu erfassen und in ihren theologischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Dimensionen darzustellen, um so eine sachgemäße Rezeption in der Gegenwart zu gewährleisten.
1 Zum geschichtstheoretischen Sinnbegriff vgl. J. RÜSEN, Historische Methode und religiöser Sinn, in; ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln 2002, (9–41) 11; zum vielschichtigen Sinnbegriff insgesamt vgl. E. LIST, Art. Sinn, HRWG 5, Stuttgart 2001, 62–71.
2 Vgl. J. RÜSEN/K.-J.HÖLKESKAMP, Einleitung: Warum es sich lohnt, mit der Sinnfrage die Antike zu interpretieren, in: Sinn (in) der Antike, hg. v. K.-J. Hölkeskamp/J. Rüsen/E. Stein-Hölkeskamp/H. Th. Grütter, Mainz 2003, (1–15) 3: „Ein Sinnkonzept lässt sich folgendermaßen definieren: Es ist ein plausibler und verlässlich beglaubigter reflektierter Bedeutungszusammenhang der Erfahrungs- und Lebenswelt und dient dazu, die Welt zu erklären, Orientierungen vorzugeben, Identität zu bilden und Handeln zweckhaft zu leiten.“
3 Das Wort Sinn leitet sich von dem indogermanischen Stamm sent- ab: eine Richtung nehmen, einen Weg gehen; im geistigen Sinn verbinden sich damit lat.: sentio (fühlen, wahrnehmen), sensus („Gefühl, Gesinnung, Meinung“), sententia (Meinung); althochdeutsch: sin (Sinn), sinnan (trachten, begehren); vgl. dazu J. POKORNY, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch I, Bern/München 1959, 908.
4 Vgl. dazu die Textsammlung bei M.HOSSENFELDER, Antike Glückslehren, Stuttgart 1996.
5 Zur Terminologie: Unter Geschichte/geschichtlich verstehe ich das Geschehene, unter Historie/historisch die Art und Weise, wie danach gefragt wird. Die Historik ist die Wissenschaftstheorie der Geschichte; vgl. dazu H.-W.HEDINGER, Art. Historik, HWP 3, Darmstadt 1974, 1132–1137. Es gibt Geschichte immer nur als Historie, zugleich muss aber zwischen beiden Begriffen unterschieden werden, weil die wissenschaftstheoretischen Fragestellungen der Historie nicht einfach identisch sind mit dem, was Menschen in der Vergangenheit unter Geschehenem verstanden.
6 Vgl. dazu J. RÜSEN, Historische Vernunft, Göttingen 1983; DERS., Rekonstruktion der Vergangenheit, Göttingen 1986; DERS., Lebendige Geschichte, Göttingen 1989; H.-J.GOERTZ, Umgang mit Geschichte, Reinbek 1995; CHR. CONRAD/M.KESSEL (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994.
7 L. V. RANKE, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514, Leipzig 21874, in: L. v. Ranke’s Sämtliche Werke. Zweite Gesamtausgabe Bd.33/34, Leipzig 1877, VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.“
8 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130f.
9 Vgl. U. SCHNELLE, Der historische Abstand und der heilige Geist, in: ders. (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin 1994, 87–103.
10 Vgl. J.G. DROYSEN, Historik, hg. v. P. Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977 (= Nachdruck 1857/1882), 422: „Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.“
11 Vgl. P. RICOEUR, Zeit und Erzählung III, München 1991, 225: „Die erste Art, das Vergangensein der Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen.“ Derartige Gedanken sind natürlich nicht neu; vgl. einen bei Claudius Aelianus, Variae Historiae 14, 6, überlieferten Ausspruch des Sokrates-Schülers Aristippos (425–355 v.Chr.): „Denn nur der gegenwärtige Augenblick gehöre uns, wie er sagte; weder das, was man vorab tut, noch das, was man erwartet. Das eine sei nämlich vergangen, von dem anderen sei ungewiß, ob es geschehen werde.“
12 Vgl. J. STRAUB, Über das Bilden von Vergangenheit, in: J. Rüsen (Hg.), Geschichtsbewusstsein, Köln/Weimar 2001, (45–113) 45: „Repräsentationen von Ereignissen und Entwicklungen liefern keine mimetischen Abbilder einstiger Geschehnisse, sondern an Deutungs- und Verstehensleistungen gebundene Auffassungen eines Geschehens. Solche Auffassungen werden aus der Perspektive einer Gegenwart von bestimmten Personen gebildet, sind also von deren Erfahrungen und Erwartungen, Orientierungen und Interessen unmittelbar abhängig.“
13 Vgl. dazu H.-J. GOERTZ, Umgang mit Geschichte, 130–146.
14 Vgl. H.-J. GOERTZ, Unsichere Geschichte, Stuttgart 2001, 29.
15 Vgl. dazu J. KOCKA, Angemessenheitskriterien historischer Argumente, in: W.J. Mommsen/J. Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977, 469–475.
16 Zum Deutungsbegriff vgl. J. LAUSTER, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 9–30; vgl. ferner U. SCHNELLE, Offenbarung und/oder Erkenntnis der Vernunft? Zur exegetischen und hermeneutischen Begründung von Glaubenswelten, in: Chr. Landmesser/A. Klein (Hg.), Offenbarung – verstehen oder erleben?, Neukirchen 2012, 119–137.
17 J.G. DROYSEN, Historik, 69. Über geschichtliche Sachverhalte urteilt Droysen, ebd., zutreffend: „Sie sind nur historisch, weil wir sie historisch auffassen, nicht an sich und objektiv, sondern in unserer Betrachtung und durch sie. Wir müssen sie sozusagen transponieren.“
18 Mit diesen Überlegungen wird trotz des unausweichlich konstruktiven Charakters der Geschichtsbildung die häufig zu beobachtende Selbstermächtigung der historischen Forschung gegenüber den zu erforschenden Gegenständen zurückgewiesen. Zur Kritik an postmodernen, radikal konstruktivistischen Beliebigkeitstheorien vgl. J. RÜSEN, Narrativität und Objektivität, in: ders., Geschichte im Kulturprozeß, Köln/Weimar 2002, 99–124; DERS., Kann gestern besser werden?, Berlin 2003, 11f: „Wenn die Geschichte in der bewegten Zeit unserer Gegenwart ständig zur Disposition steht, so werden wir, die Deutenden, von ihr also immer schon disponiert. Wir, die wir sie ‚konstruieren‘, sind als diese Konstrukteure vorab immer schon von ihr konstruiert worden“; G.DUX, Historisch-genetische Theorie der Kultur, Weilerswist 2000, 160: „Der blinde Fleck im logischen Absolutismus, wie wir ihn im postmodernen Verständnis der Konstruktivität und der ihm affinen Systemtheorie kennengelernt haben, besteht darin, die Konstruktivität nicht ihrerseits einem systemischen Bedingungszusammenhang unterworfen zu haben.“
19 Diesen Aspekt beton L.Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, 44: „Gäbe es nicht die relative Stabilität des kategorialen Apparats temporaler Grundmuster, so ließen sich verschiedene Geschichtsbilder historisch überhaupt nicht miteinander in Beziehung setzen. Erst die relative Konstanz temporaler Kategorien ermöglicht den historischen Abgleich inhaltlich differenter Geschichtsbilder.“
20 Vgl. J.RÜSEN, Faktizität und Fiktionalität der Geschichte – Was ist Wirklichkeit im historischen Denken?, in: Konstruktion von Wirklichkeit, hg. v. J. Schröter/A. Eddelbüttel, Berlin 2004, (19–32) 31: „Was macht Sinn wirksam? Schon die Einprägung der Wirklichkeit in das historische Denken hinein ist ein Sinngeschehen, ein Geschehen, in dem historischer Sinn generiert wird. Ohne diese seine unvordenkliche Wirklichkeit könnte er das historische Denken nicht so in den mentalen Operationen des Geschichtsbewusstseins bestimmen, wie es zur Erfüllung seiner kulturellen Orientierungsfunktion notwendig ist.