Funktionen der Erzählung
Die erste und grundlegende Funktion der Erzählung besteht darin, durch Temporalisierung Wirklichkeit zu konstituieren50. Erzählungen geben der Wirklichkeit eine besondere qualifizierte Ordnung, indem sie die Kommunikation dieser Wirklichkeiten überhaupt erst möglich machen51. Eine weitere Funktion von Erzählungen besteht in der Wissensbildung und Wissensvermittlung. Erzählungen berichten, beschreiben und erklären Geschehnisse, vermehren das Wissen und bilden ein Weltbild, an dem sich Menschen orientieren können. Durch Relationierung setzen Erzählungen in Beziehung und stellen kausale Verknüpfungen her, die das Verstehen ermöglichen52. Oppositionen werden aufgebrochen und Beziehungen neu bestimmt, so zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, dem Zeitlichen und Ewigen, dem Leben und dem Tod.
Ein besonderes Leistungsmerkmal von Erzählungen ist die Bildung, Präsentation und Stabilisierung von Identität. Erzählungen stiften und verbürgen einen Sinnzusammenhang, der durch Identifikationen zur Identitätsbildung führt. Durch Erzählungen werden Erinnerungen hervorgerufen und transportiert, ohne die es keine dauerhafte Identität geben kann. Insbesondere in Erzählungen bearbeitete kollektive Erfahrungen rufen bei den Subjekten Identifikation hervor, die in Handlungs- und Lebensorientierungen übergehen. Die Orientierungsbildung gehört zu den grundlegenden praktischen Funktionen von Erzählungen. Durch Erzählungen werden Handlungsmöglichkeiten eröffnet oder verschlossen, sie strukturieren den Handlungsraum von Menschen. Erzählungen haben deshalb auch immer eine normative Dimension, sie sollen ethische Orientierungsleistungen bringen. Die Vermittlung von Werten und Normen, das Angebot oder die Revision von Standpunkten gehören zu den weiteren Funktionen von Erzählungen. Indem Erfahrungen und Erwartungen, Werte und Orientierungen durch Erzählungen vermittelt werden, bildet sich ein ethisches und pädagogisches Bewusstsein heraus. Wenn die Angebote von Erzählungen aufgegriffen und geteilt werden, schaffen sie die Basis für übereinstimmende Urteile und eine gemeinsame Welt, die durch soziales Handeln hergestellt wird. Erzählungen erfüllen soziokulturelle Verbindungsfunktionen und legen die Basis für ein gemeinsames Handeln in der Gegenwart und eine vergleichbare Zukunftsperspektive.
Zugleich liefern Erzählungen die Basis für Traditionsbildungen, deren Teil sie selbst sind, indem sie Kontinuität herstellen und sicherstellen, dass Informationen, Deutungsleistungen, Verhaltensformen und Werte durch die Zeit hindurch weitergegeben werden.
Erzählung und Erzählungen im frühen Christentum
Der grundsätzlich konstruktive Charakter historischer Sinnbildung ist bei den ntl. Autoren offenkundig: Sie errichten Sinnwelten, die auf der Basis von Erzähleinheiten, Schlüsselbegriffen und Symbolen den Glaubenden ihre Stellung in der Welt aufschlüsseln, Lebensgestaltungen eröffnen, ethische Modelle anbieten und den Blick über den Tod hinaus ermöglichen. Erzählen bezieht sich immer auf Erinnerungen, um so Zeiterfahrungen zu deuten. Die Erinnerung ist der maßgebliche Bezug auf die Erfahrung von Zeit. Die Jesus-Christus-Erzählungen der ntl. Schriften sind selbst Ausdruck eines Erinnerungsprozesses und sie bilden ein Geschichtsbewusstsein, indem sie die Sinnhaftigkeit des Handelns Gottes mit Jesus von Nazareth für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft proklamieren. Durch Erzählen wird bei allen Autoren ein innerer Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektiven hergestellt, so dass in der Rezeption das Geschehen bewahrt werden kann. Ereignisse werden präsentiert und geformt und so zu narrativen Sinnbildungsleistungen. Die Konstruktion von Zeit- und Sachzusammenhängen ist unabdingbar an narrative Akte gebunden.
All diese Funktionen der Erzählung machen deutlich, dass eine Unterscheidung zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen nicht trägt. Weil das erinnernde Erzählen immer auf das Verstehen und Handeln der Menschen in der Gegenwart orientiert ist, fließen notwendigerweise in jeder Erzählung fiktionale und nicht-fiktionale Elemente zusammen. Die Alternative ‚historischer Jesus‘ – ‚Christus des Glaubens‘ verbietet sich daher schon erzähltheoretisch, denn einen Zugang zu Jesus von Nazareth kann es nicht jenseits seiner Bedeutung für die Gegenwart geben. Erzähltheoretisch gilt: Es gibt den historischen Jesus nicht ohne den kerygmatischen Christus und den kerygmatischen Christus nicht ohne den historischen Jesus; vielmehr existiert eine gegenseitige Verwiesenheit. Erst die Erzählung eröffnet Räume für Rezeption und Interpretation, ermöglicht Transformationsleistungen, wie sie in allen ntl. Schriften vorliegen.
Dies gilt sowohl für die mündliche als auch schriftliche Erzählung, die innerhalb des frühen Christentums nicht als Gegensätze aufgefasst werden dürfen, sondern über längere Zeit nebeneinander bestanden und sich gegenseitig befruchteten. Zugleich setzte die mit Paulus nachweislich beginnende und mit den Evangelien sich weiter profilierende Schriftlichkeit der Erzählung neue Akzente. Das Medium der Schrift entlastet von der (emotionalen) Unmittelbarkeit der Kommunikation und schafft somit eine Distanz zwischen den Inhalten von Geschichte und der Kommunikation von und durch Geschichte. Diese Distanz ermöglicht Denk-, Interpretations- und Transformationsleistungen, erlaubt Verfremdungseffekte, die alle für das Beschreiben, Erfassen, Transportieren und Rezeptieren von Ereignissen unentbehrlich sind. Die Schriftlichkeit entlastet das Gedächtnis, sie fixiert Ereignisse und entflechtet sie aus unmittelbaren Handlungsvorgängen, wodurch der nötige Freiraum für Objektivierungsleistungen und Interpretationen entsteht. Indem die Erzähler zu Autoren werden und die Leser/Hörer die Möglichkeit kritischer Rezeption erhalten, eröffnet sich die Möglichkeit, durch Erklärungsarrangements, begriffliche Fixierungen und moralische Appelle normative Deutungen zu etablieren.
Nachzeitigkeit als Prae
Wir besitzen keine Aufzeichnungen von Jesus oder von unmittelbaren Zeugen seines Auftretens, sondern nur Zeugnisse etwas späterer Zeit53. Dies ist keineswegs ein Mangel, denn die Nachzeitigkeit54 des Erinnerns bedeutet keinen Erkenntnisverlust, weil die Bedeutung eines Geschehens sich grundsätzlich erst im Rückblick vollkommen erschließt. Das Vergangene existiert immer nur als gegenwärtige Aneignung und wird im Kontext gegenwärtiger Identität immer wieder wahrgenommen und erschlossen. Nur innerhalb eines solchen anhaltenden Prozesses gibt es überhaupt Erkennen des relevant Vergangenen und nur so wird Vergangenes kommunizierbar und erschließt sich in seiner Bedeutung. Die Distanz der Nachzeitigkeit schafft den Raum für neue Denk- und Transformationsleistungen, um die Metaphorik herauszubilden, die den Gehalt eines Ereignisses trägt und Verstehen ermöglicht. Dabei wird sich zeigen, wie kreativ und vielfältig, treffend und bleibend die nachträglichen Erzählungen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament sind.
Fazit
Was bedeuten diese grundlegenden Überlegungen zum Entstehen von Geschichte, zum historischen Erkennen als Sinnbildungsleistung und zur Erzählung als primäre Erfassungs-, Darstellungs- und Kommunikationsform geschichtlicher Ereignisse für eine Theologie des Neuen Testaments?
1) Die Theologie insgesamt und damit auch die Theologie des Neuen Testaments befindet sich keineswegs in einem erkenntnistheoretischen Minus, sondern alles Erkennen ist perspektivische und standortgebundene Konstruktion. Jede Wissenschaft hat ihren