2Der Aufbau: Geschichte und Sinn
G.STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige Aufsatzsammlung); L.GOPPELT, Theologie, 52–62; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I, 21–53; H.HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 1–39; U.WILCKENS, Theologie I, 1–66; F.HAHN, Theologie I, 1–28; C.BREYTENBACH/J.FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007; P.-G. KLUMBIES, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015.
Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Vor allem: Ist die Verkündigung des historischen Jesus Voraussetzung oder Bestandteil einer Theologie des Neuen Testaments? Wie verhalten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Folgenden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung.
Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Testaments.
Das Modell der Diskontinuität
Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konsequenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚sogenannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwunden werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘, andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit ‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘ das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für möglich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konnte diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Position bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich bestimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeichnungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umgeformtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden entstanden ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen der heidnischen Umwelt.
Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4.
Das Modell der Kontinuität
Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben … und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens.
2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s.o. 1.3). Auch R.Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären.
3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben!8
Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J.Jeremias, L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens und F.Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditions- und Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s.u. 2.3).
Ostern