Fakten und Fiktion
Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten22. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn verleihen soll. Historische Interpretation heißt, einen kohärenten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer Erzählzusammenhänge werden die Fakten das, was sie für uns sind23. Dabei müssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/Erzählung von Geschichte notwendigerweise ‚Fakten‘ und ‚Fiktion‘24, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefüllt werden müssen, fließen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen25. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte26. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen27. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das Verständnis der Fakten28. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, ermöglicht die unumgängliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist für die historische Arbeit unerlässlich, denn sie entfaltet den präfigurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwärtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. Damit ist der 2. Teil der Überlegungen erreicht: Der notwendig und unausweichlich konstruktive Charakter von Geschichte ist immer Teil einer Sinnbildung.
Menschliches Sein und Handeln zeichnet sich durch Sinn aus29. Es lässt sich keine menschliche Lebensform bestimmen, „ohne auf Sinn zu rekurrieren. Es macht Sinn, Sinn als Grundform menschlichen Daseins zu verstehen.“30 Schon die kulturanthropologische Unabweisbarkeit von Transzendenzvollzügen des Menschen mit sich selbst und seiner soziokulturellen Lebenswelt hat notwendigerweise Sinnbildungen zur Folge31. Sinnbildung ist nicht etwas Eigenmächtiges, sondern unausweichlich, notwendig und natürlich. Zudem wird der Mensch immer schon in Sinnwelten hineingeboren32, Sinn ist unabwendbar, die menschliche Lebenswelt muss sinnhaft gedacht und erschlossen werden, denn nur so ist Leben und Handeln in ihr möglich33. Jede Religion ist als Sinnform ein solcher Erschließungsvorgang, somit auch das frühe Christentum und die in ihm entwickelten Theologien. Konkret vollzieht sich dieser Erschließungsvorgang als historische Sinnbildung. Historischer Sinn konstituiert sich aus den „drei Komponenten Erfahrung, Deutung und Orientierung.“34 Aus der Faktizität eines Ereignisses lässt sich noch nicht seine Sinnhaftigkeit ableiten; es bedarf der eigenen Erfahrung, dass ein Ereignis Sinnpotential enthält.
Sinn und Identität
Sinnbildung ist immer mit Identitätsangeboten verbunden35; Sinnbildung gelingt nur, wenn sie überzeugende Identitätsangebote macht. Menschen gewinnen Identität vor allem dadurch, dass sie ihrem Leben eine dauerhafte Orientierung geben, die die vielfältigen aktuellen Wünsche und Absichten in einen stabilen, kohärenten und intersubjektiv vertretbaren Zusammenhang bringt. Identität wird in einem ständigen Prozess, im steten Wechselspiel zwischen positiver Bestimmung des Selbst und Differenzerfahrungen gebildet36. Identitäten entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern vorhandene Identitäten werden aufgenommen, transformiert und einem Neuen zugeführt, das als Identitätssteigerung empfunden wird. Deshalb kann Identität nie statisch aufgefasst werden, sie ist Teil eines ständigen Umbildungsprozesses; „als Einheit und Selbigkeit des Subjekts“ ist Identität „nur als Synthesis und Relationierung des Differenten und Heterogenen denkbar.“37 Die Unterschiedenheit zur Umwelt, die Erfahrungen an eigene und fremdgesetzte Grenzen zu stoßen, sowie die positive Selbstwahrnehmung bestimmen gleichermaßen die Identitätsbildungsprozesse. Auch kollektive Identitäten bilden sich aus der Bearbeitung von Differenzerfahrungen und Gemeinsamkeitsgefühl. Dabei spielen Symbole eine entscheidende Rolle, denn erst mit ihrer Hilfe können kollektive Identitäten hergestellt und erhalten werden. Sinnwelten müssen sich im profanen Wirklichkeitsbereich artikulieren können und ihre Inhalte kommunizierbar halten. Dies vollzieht sich zu einem erheblichen Teil durch Symbole, deren lebensweltliche Funktion darin besteht, eine Brücke „von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen“38 zu schlagen. Speziell bei der Bearbeitung der ‚großen Transzendenzen‘39 wie Krankheiten, Krisen und Tod kommt Symbolen eine grundlegende Funktion zu, denn sie gehören einer anderen Wirklichkeitsebene als ihre Träger an und können die Verbindung mit dieser Ebene leisten. Symbole sind eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung. Identitätsbildung ist somit immer eingebunden in einen komplexen Prozess der Interaktion zwischen dem einzelnen und/oder kollektiven Subjekt, seiner Differenz- und Grenzerfahrungen, seinen positiven Selbstzuschreibungen, seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Die jeweiligen Bestimmungen von Identitäten vollziehen sich notwendigerweise durch Sinnwelten, die als soziale Konstruktionen Deutungsmuster bereitstellen, um die Wirklichkeit sinnhaft zu erfahren40. Sinnwelten sind zu Zeichen objektivierte und damit kommunizierbare Vorstellungen von Wirklichkeit. Sinnwelten legitimieren soziale Strukturen, Institutionen, Rollen u.a.m., d.h. sie erklären und begründen Sachverhalte41. Zudem integrieren Sinnwelten jene Rollen zu einem sinnvollen Ganzen, in denen Einzelpersonen oder Gruppen agieren. Sie stiften synchrone Kohärenz und stellen zugleich eine diachrone Verortung, indem sie den einzelnen und/oder die Gruppe in einen übergreifenden Geschichts- und damit Sinnzusammenhang einordnen. Religion bildet die symbolische Sinnwelt schlechthin42, denn weitaus mehr als das Recht, philosophische Entwürfe oder politische Ideologien erhebt sie den Anspruch, die eine Wirklichkeit zu repräsentieren, die alle anderen Wirklichkeiten übersteigt: Gott bzw. das Heilige. Auch für die Postmoderne gilt: Religion ist keine Illusion, sondern eine zukunftsträchtige psychische Realität! Als umfassende, dem Menschen jeweils vorgegebene Wirklichkeit vermag die Religion eine Sinnwelt zu bieten, die vor allem mit Hilfe von Symbolen den Einzelnen wie die Gruppe in die Gesamtheit des Kosmos einordnet, die Phänomene des Lebens deutet, Handlungsanweisungen bietet und schließlich über den Tod hinaus Perspektiven eröffnet43. Wenn sich Geschichte als Sinn- und Identitätsbildung etabliert, stellt sich die Frage nach dem Modus dieses Vorganges.
Ein historisches Ereignis ist an