Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung36; Kanonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitätsbildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelungen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Eingrenzung und Festlegung des Gebotenen“37 zu bestimmen. Die Kanonisierung spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ursprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und begrenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften! Ein Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt38. Schließlich: Eine Theologie des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testaments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer!39 Ihre Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der einzelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Kanon erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte: um 180 n.Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine sekundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spezifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristliche Identitätsbildung liefert.
Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.
2.4Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments.
Der methodische Ansatz
Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt40. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick.
Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole41. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden42. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s.u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/1.2Tim/Tit/2Petr/Jud).
Mit dem Einsatz bei den einzelnen ntl. Autoren/Schriften (ausgenommen natürlich die Verkündigung des Jesus von Nazareth) unterscheidet sich diese Theologie wesentlich von dem Entwurf R. Bultmanns. Seine Theologie des Neuen Testaments gleicht in ihrem Aufbau einem Bergmassiv mit zwei Gipfeln. Man hat zunächst einen ‚leichten‘ Anstieg, denn die Frage nach dem historischen Jesus wird ausgeblendet und das vor- bzw. außerpaulinische Christentum nur summarisch behandelt. Dann folgt ein sehr ‚steiler‘ Aufstieg: Der Paulus- und Johannes-Abschnitt in der Theologie des Neuen Testaments bilden ein je in sich geschlossenes Meisterstück. Paulus und Johannes sind die beiden einzigen ‚wirklichen‘ Theologen des Neuen Testaments, sie sind gewissermaßen die ‚Gipfel‘ theologischer Reflexion43. Johannes steht in sachlicher Nähe zu Paulus, beide befinden sich im Raum eines gnostisch gefärbten Hellenismus und gestalten ihre Christologie „nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos“44. Nach diesen beiden Gipfeln folgt ein steiler Abstieg, denn die nachjohanneische Entwicklung und der Weg zur Alten Kirche werden wiederum nur sehr summarisch dargestellt. Faktisch führt die Konzentration auf Paulus und Johannes bei Bultmann zu einer Vernachlässigung bzw. einem Ausblenden wesentlicher theologischer Entwürfe im Neuen Testament (z.B. Synoptiker, Apostelgeschichte, Deuteropaulinen, Hebräerbrief, 1Petrusbrief, Jakobusbrief, Johannesoffenbarung).
Eine solche Reduzierung findet sich bei F. Hahn nicht, der in Band I seiner Theologie des Neuen Testaments umfassend die unterschiedlichen theologischen Entwürfe darstellt und als Theologiegeschichte des Urchristentums klassifiziert. Dies reicht aber seiner Meinung nach nicht aus, um von ‚Theologie‘ zu sprechen. Erst wenn die verschiedenen Entwürfe aufeinander bezogen werden und nach ihrer Einheit gefragt wird, kann von ‚Theologie‘ im eigentlichen Sinn die Rede sein. Dies soll der Offenbarungsgedanke als übergeordnete Leitkategorie