Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d.h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden.
Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen48, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen.
Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief, und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen49. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich)50 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind:
1) Theologie: Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat?
2) Christologie: Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses.
3) Pneumatologie: Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden.
4) Soteriologie: Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht.
5) Anthropologie: Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15) rückt in das Zentrum der Reflektion.
6) Ethik: Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext einer hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Programm zu entwickeln.
7) Ekklesiologie: Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen.
8) Eschatologie: Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Weise, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergangenheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Weltgeschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfassenden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.
In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung) wird versucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbildungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird.
Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der historischen Entwicklung selbst51, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und erschließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleistet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzelnen Schriften dargestellt werden (z.B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoralbriefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwürfe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Besonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzählstruktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheitsbildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren. Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere für das Ganze zu halten und umgekehrt.
Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer eingebettet in historische,