Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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der Funde und Befunde. Bis Mitte der 1960er Jahre koexistierten in Jugoslawien diese panslawistische Idee und die aus dem 19. Jahrhundert stammende „altserbische“ Interpretationsvariante.

      Erst ab Mitte der 1960er Jahre verschwanden beide stark ideologisierten Denkmuster aus den Deutungen, die nicht mehr zwanghaft ethnischen Kriterien folgen und die Siedlungskontinuität der „Al [<<118] tserben“ belegen mussten. (Die ersten, aber entscheidenden Schritte haben in dieser Richtung Danica Dimitrijević sowie Jovan Kovačević gemacht.) In einer Atmosphäre relativer Freiheit und Toleranz wurden neue Vorhaben der Mittelalterarchäologie in Angriff genommen, so die Klostergrabungen in Aracs (srb. Arača) und Dombó (srb. Novi Rakovac). Die awarenzeitlichen Gräberfelder der nördlichen Batschka wurden systematisch erforscht und die mittelalterliche Siedlungstopographie derselben Region unter Verwendung des archäologischen Quellenmaterials rekonstruiert. Sándor Nagy (1912–1995) sowie László Szekeres (1931–1997) haben sich größte Verdienste bei dieser Arbeit erworben.

      Als Slobodan Milošević 1987 in Serbien an die Macht gelangte, bedeutete dies auch eine erhebliche Umstrukturierung der Mittelalterarchäologie in der Vojvodina. Ziel des neuen Regimes war die Mobilisierung der öffentlichen Meinung, die für bevorstehende interethnische Kriege indoktriniert werden sollte. In der Vojvodina wurde eine Pressekampagne mit der Behauptung geführt, das serbische Kulturerbe werde absichtlich vernichtet (1991). Der radikale Abgeordnete Milan Paroški, damals Leiter des Denkmalamtes der Vojvodina, brachte sogar eine entsprechende Interpellation im serbischen Parlament ein. Die Pressekampagne zielte auf die angebliche Zerstörung der Grundmauern einer Kirche beim Bau der Autobahn E75. Dieses Denkmal wurde als altserbische Kathedralkirche des 9. Jahrhunderts und als Massengrab der „altserbischen“ Opfer der ungarischen Landnahme an der Wende zum 10. Jahrhundert interpretiert, und dies, obwohl alle Funde und Befunde in das 13.‒16. Jahrhundert zu datieren sind. Wiederbelebt wurde auch die Vorstellung einer seit dem 3./4. Jahrhundert n. Chr. dauerhaft ansässigen „altserbischen“ Bevölkerung. Seit dem Sturz des Milošević-Regimes teilen sich die Mittelalterarchäologen in jene, die – wie in Ostmitteleuropa nunmehr üblich – ethnische Deutungskategorien archäologischer Funde mit Zurückhaltung anwenden (Nebojša Stanojev, Ivan Bugarski), und jene, die weiterhin die Theorie einer „altserbischen“ Kontinuität vertreten (Djordje Janković, Stanko Trifunović). [<<119]

      2.4.3 Inschriften als Quelle für Herrschaftsgeschichte: Frühmittelalterliche kroatische Inschriften

      Tomislav Raukar, Zagreb

      Frühe Herrschaftsbildung an der Adria

      Quellenmangel hat die Mythenbildung auch zur frühmittelalterlichen Geschichte der Kroaten begünstigt. Die Gleichsetzung von Goten und Slawen in zwei lateinischen Chroniken aus dem 13. Jahrhundert hat sogar zu der heute allerdings kaum noch vertretenen These einer gotisch-kroatischen Kontinuität geführt.

      Im Rahmen der Feldzüge der Awaren gelangten um 625 Slawen an die Adria. Ob die Kroaten, deren Namen wohl auf die iranischstämmige Bezeichnung für einen awarischen Würdenträger zurückgeht, als bereits slawisches Ethnos kamen oder einer weiteren, sekundär slawisierten Zuwandererschicht angehören, ist nicht zu klären. Mit byzantinischer Unterstützung lösten sich die Kroaten allmählich von der awarischen Herrschaft. Ihre Christianisierung erfolgte in der Zeit der Abhängigkeit vom fränkischen Reich um 800 von Aquileia und den dalmatinischen Städten aus.

      Fürst Trpimir († 864) begründete die nach ihm benannte Dynastie; zu seiner Zeit wurde außerdem in Nin (nordwestlich von Zadar) ein Bistum für Kroatien errichtet, dessen Mittelpunkt im Dreieck Nin – Knin – Solin (dem alten Salona bei Split) lag. Den Höhepunkt erreichte die mittelalterliche kroatische Reichsbildung unter dem vom Papst als König angesprochenen Tomislav († 928). König Zvonimir schwor Papst Gregor VII. 1075 den Lehnseid. Nach dem Ende der Dynastie und in Verbindung mit dem durch Erbansprüche geförderten Bestreben der ungarischen Krone, einen Zugang an die Adria zu erhalten, wurde der ungarische König Koloman 1102 in Biograd zum kroatischen König gekrönt. 1105 erreichte er zudem die Anerkennung seiner Herrschaft durch die bis dahin nominell noch byzantinischen norddalmatischen Städte. Über alle nationalpolitisch bedingten staatsrechtlichen Debatten über die Natur des ungarisch-kroatischen Verhältnisses hinweg hatte die ungarisch-kroatische Personalunion bis 1918 Bestand.

      Aus den Städten des byzantinischen Dalmatien und dem Raum des kroatischen Fürstentums bzw. später Königtums und seines Umlandes haben sich aus dem 9.‒11. Jahrhundert zahlreiche ep [<<120] igraphische Denkmäler erhalten. Dabei handelt es sich zumeist um Bruchstücke, unter diesen aber befinden sich auch einige vollständige Inschriften von herausragender Bedeutung für die frühe kroatische Geschichte. In den Inschriften der dalmatinischen Städte werden vor allem kirchliche Würdenträger, Erzbischöfe und Bischöfe, wie auch weltliche Amtsträger, darunter die Prioren, die weltlichen Stadtoberhäupter, erwähnt. In den Inschriften des kroatischen Fürstentums bzw. Königtums, d. h. hauptsächlich im Raum zwischen Solin, Knin und Nin sind kroatische Fürsten, Könige und deren župani (regionale Amtsträger) genannt.

      Älteste Schriftträger

      Das älteste und zugleich eines der wichtigsten erhaltenen epigraphischen Denkmäler des kroatischen Raumes ist das Baptisterium des Višeslav, ein sechseckiges steinernes Taufbecken, das aus der Kathedrale von Nin (nördlich von Zadar) stammt. Auf der Inschrift, die um die obere Kante des Beckens verläuft, heißt es, der Priester Johannes habe zur Zeit des Fürsten Višeslav das Taufbecken anfertigen lassen (SUB TEMPORE VUISSASCLAVO DUCI). In anderen Quellen wird dieser kroatische Fürst nicht erwähnt, aber das Taufbecken ist wohl ein Beleg für die Hauptwelle der Christianisierung der Kroaten zu Beginn des 9. Jahrhunderts; demnach kann die Herrschaftszeit des ansonsten unbekannten Fürsten Višeslav in die ersten Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts datiert werden.

      Aus Solin bei Split, dem anderen Mittelpunkt des kroatischen Fürstentums bzw. Königtums, sind einige wichtige lateinische Inschriften erhalten. Aus Rižinice, einem Ort zwischen Solin und Klis, wo sich ein Benediktinerkloster und eine Kirche befanden, haben sich Reste der Altarschranke erhalten. Auf der Inschrift eines Giebelfragments wird der Fürst Trpimir erwähnt (PRO DVCE TREPIM[ERO]), der 852 eine Schenkungsurkunde, die älteste erhaltene kroatische Herrscherurkunde, ausstellte. Ihn erwähnt auch Gottschalk aus Orbais in seiner Schrift Tractatus de trina deitate, in der er berichtet, dass Trpimir gegen das „Volk der Griechen und deren patrikioi“, d. h. die dalmatinischen Städte, erfolgreich Krieg geführt habe. So ist das Fragment aus Rižinice in die Mitte des 9. Jahrhunderts zu datieren.

      Grabinschrift für Königin Helena/Jelena

      Bedeutsam ist auch die Grabinschrift für die Königin Helena/Jelena aus Solin, aus der Kirche Sveti Stjepan na Otoku/St. Stefan auf der Insel. Sie enthält im Text selbst das Datum 976. Als die Grabplatte [<<121] entdeckt wurde, war sie in zahllose Teile zerbrochen, doch konnte der Text in Grundzügen rekonstruiert werden. Der Grabinschrift zufolge war Helena die UXOR MIHAELI REGI MATERQ(UE) STEFANI R[EGIS], d. h. die Frau von König Mihajlo Krešimir II. und Mutter von König Stjepan Držislav. Dies sind wichtige Angaben zur Bestätigung der Herrschergenealogie der Dynastie der Trpimiriden. Die Inschrift bietet auch ein topisches Beispiel der Darstellung von Herrschertugenden, wenn Helena als „Mutter des Königreichs und Beschützerin der Waisen und Witwen“ gefeiert wird (ISTAQ[ue v]IVENS FU[it] REGN[i]MATER FIT PUPILLOR(UM) TUTO[rque] VIDUAR(UM)).

      Kroatische Fürsten und Könige

      Aus Uzdolje na Kosovu bei Knin stammen Bruchstücke einer Altarschranke mit einer Inschrift, die den Fürsten Muncimir erwähnt. Die Inschrift verläuft entlang der Unterkante der Altarschranke und nennt das Jahr 895. Sie lautet: [H]IC BENE CO(M)P(O)S(U)IT OPVS PRINCEPS NA(M)Q(UE) MUNCIMYR, was zeigt, dass Fürst Muncimir mit dem Titel princeps die Kirche oder zumindest deren Altar hatte errichten lassen.

      In Kapitul bei Knin wurden zwei Steinplatten gefunden, die mit Flechtornamentik verziert sind und wohl Teile einer Altarschranke oder eines Ambo bildeten. Auf ihrer oberen Kante befindet sich eine Inschrift, in der zwei kroatische Herrscher erwähnt sind: […]CLV DVX XROATORUM IN TE(M)PVS DIRZISCLV DVCE(M) MAGNV(M). Der erste Name ist nur unvollständig