Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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sind – durch das gesamte Mittelalter – materielle Denkmäler von besonderer Bedeutung. Ist die Mittelalterarchäologie im Vergleich zur klassischen Archäologie schon im westlichen Europa ein verhältnismäßig junges Fach, gilt dies erst recht für Südosteuropa. Dort diente und dient teilweise bis in die Gegenwart die antike Geschichte als Grundlage und Rechtfertigung moderner Staats- und Nationsbildung. Entsprechend wurde in Griechenland in die Archäologie des antiken Makedonien, in Bulgarien in die Thrakerforschung, in Rumänien in die Dakerarchäologie und in Albanien in die Erschließung der materiellen Kultur, die den Illyrern zugeschrieben wurde, investiert.

      In den kommunistischen Diktaturen mobilisierten die Regime erhebliche Mittel für diese Forschungen, die entsprechend hoch ideologisiert waren und die jeweiligen Dogmen von Alteingesessenheit und Siedlungskontinuität absichern sollten. Das Mittelalter stand ganz im Schatten der Konzentration auf die Antike – denn nur diese gewährleistete ein möglichst hohes Alter des jeweiligen Nationskonstrukts. Etwas anders gelagert sind jene Fälle, in denen frühmittelalterliche Zuwanderung ganz (im Falle Ungarns oder Kroatiens) oder teilweise (im Falle Bulgariens) Teil der nationalgeschichtlichen Meistererzählung ist. Hier erhielten entsprechende Funde geradezu nationalen Symbolcharakter wie etwa der sogenannte Reiter von Madara in Bulgarien (Abb 3) (→ Kap. 2.4.4). [<<110]

      Neuere Ergebnisse archäologischer Grabungen stellen viele vermeintliche Gewissheiten der nationalkommunistischen Forschungen infrage. Die Beiträge von Etleva Nallbani und Miklós Takács erläutern, welche neuen Fragen und Interpretationsschemata für die Auswertung archäologischer Befunde verwendet werden und welche neuen Deutungen sich daraus für die frühmittelalterliche Geschichte des Donau-Balkan-Raumes ergeben.

      Materielle Überlieferung ist oft auch Trägerin der spärlichen Schriftlichkeit in der Region. Daniel Ziemann für Bulgarien und Tomislav Raukar für Kroatien legen dar, wie sehr die Forschung von den wenigen inschriftlichen Befunden abhängig ist. Unterstützt wird dieser Befund durch die Behandlung von Siegeln als Quelle für die wichtigste Reichsbildung im frühmittelalterlichen Balkan, das Erste Bulgarische Reich. Neben den Inschriften sind Siegel die Hauptquelle etwa für Herrschaftsrepräsentationen des frisch christianisierten Reichs. Dass noch im 13. Jahrhundert ein Patriarch der bulgarischen Kirche im Wesentlichen nur durch einen einzigen sigillographischen Beleg bekannt ist, macht den gewaltigen Unterschied in der Quellenüberlieferung zwischen dem westlichen und südöstlichen Europa deutlich. Wer eine mittelalterliche Geschichte Europas schreibt, die nicht die Mitte oder den Westen des Kontinents zur Norm erhebt, hat sich mit dieser methodischen Konstellation eingehend auseinander zu setzen. [<<111]

      2.4.1 Stratigraphie eines Burghügels – das Beispiel von Alessio/Lissus/Lezha

      Etleva Nallbani, Paris

      An der südwestlichen Adriaküste, im Gebiet des heutigen Nordalbanien, überlappten sich die Einflüsse aus dem westlichen und dem östlichen Teil des spätantiken Römischen Reichs in besonderer Weise, hier begegneten sich das Lateinische und das Griechische als Amts- und daher Inschriftensprache (→ Kap. 2.2.2), hier wirkte sich das Ringen der Kirchen von Rom und Konstantinopel um kirchenrechtlichen und kulturellen Einfluss auf dem Balkan in enger Nachbarschaft und schwankenden konfessionellen Loyalitäten aus (→ Kap. 2.3.2). Die Erforschung des Siedlungswesens dieser Grenzregion ist daher von besonderem Interesse. Dabei kommt angesichts des Mangels schriftlicher Quellen gerade für das Früh- und Hochmittelalter der Archäologie besondere Bedeutung zu. Ausgrabungen zweier großer Stätten sollen Licht in dieses Dunkel bringen. Seit 2008 gräbt ein albanisch-französisches Team im alten Lissus (heute Lezha, nahe der Adriaküste) und in Dalmace (heute Koman), im nahen gebirgigen Hinterland. Es interessiert sich dabei für die Organisation des Siedlungsraumes, die Bevölkerungsentwicklung und den regionalen Austausch von Waren [<<112] im Tal des Drin, eines der wichtigsten in die Adria entwässernden Flüsse des Balkans, im heutigen Nordwestalbanien. Dalmace ist seit 1989 wegen seiner besonders reichen Nekropole (Gräberfeld) bekannt und wurde zu einem mythischen Ort der albanischen Archäologie. Die sog. Kultur von Koman sollte das fehlende Glied in der Theorie der nationalistischen albanischen Geschichtsschreibung von einer ungebrochenen albanischen Siedlungskontinuität von den antiken Illyrern über die mittelalterlichen sog. Arbër bis zu den modernen Albanern bilden (→ Kap. 2.2.3).

      Durch Grabungen zu einer Neudeutung der frühmittelalterlichen Geschichte

      Die seit 2008 laufenden neuen Grabungen versuchen, sich von diesem politisch motivierten Schema zu lösen.

      Bisher haben sie ergeben, dass Dalmace nicht nur aus einer Nekropole bestand, sondern sich auf mehreren steil abfallenden Höhenbereichen auf einer Fläche von rund 35 Hektar ausdehnte. Die Siedlung beherrschte das rechte Ufer des Drin zwischen der Siedlung Sarda im Osten und der Festung Scodra (heute Shkodra, die wichtigste Stadt Nordalbaniens) im Nordwesten. Die Siedlung Dalmace geht im Wesentlichen auf die römische Epoche zurück, auch wenn es Siedlungsspuren aus hellenistischer Zeit (den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten) gibt. Im Mittelalter wies der Ort eine sehr dichte Siedlungsgeschichte auf, besonders vom ca. 6.‒10. Jahrhundert, als sich Dalmace [<<113] zu einem richtigen städtischen Zentrum entwickelte. Die Siedlung war in mehrere Viertel gegliedert, darunter eines mit hochgelegenen Wohnhäusern aus Stein sowie Kirchen und Produktionsstätten. Bisher sind eine große Nekropole und fünf Kirchen freigelegt worden, die die verschiedenen Siedlungsstufen kennzeichnen. Die Dichte der Kirchenbauten ist ein besonderes Merkmal der Topographie von Dalmace zwischen dem 8. und dem 12. Jahrhundert und prägt auch sonst die städtische Kultur Nordwestalbaniens (Lezha, Sarda, Danja, alle am Drin gelegen). Die Kirchen waren ursprünglich hochwertig geschmückt und bemalt und mit liturgischen Geräten ausgestattet, was auf die außergewöhnliche Investitionstätigkeit der Geistlichkeit hindeutet. Der Klerus wurde so zum Mittelpunkt von Wirtschaft und Produktion in Dalmace. Auf der St. Georgs-Insel bestand auch eine Metallerzeugung, was für die Bestattungsbräuche zwischen dem 7. Jahrhundert und dem Ende des Mittelalters durchaus unüblich war. Eine 2012 entdeckte Schmiede überlagerte am Kopfende der Kirche einen Gräberbereich (9.‒10. Jh.).

      Diese ersten Befunde zur Produktion und die außergewöhnliche Fülle und Reichhaltigkeit der freigelegten Objekte in der Siedlung und vor allem der Nekropole erlauben es, verschiedene Gegenstände aus Keramik, Glas und Metall und deren Verteilung durch den regionalen Handel genauer zu untersuchen. Die Nekropole dehnt sich über eine Fläche von vier Hektar aus und war seit der spätrömischen Zeit (4./5. Jh.) bis mindestens zum 13. Jahrhundert in Gebrauch – an ihrem Beispiel lässt sich die tausendjährige Siedlungsgeschichte auch in regional vergleichender Sicht darstellen. Die Erdbestattung, ein allgemeiner Brauch seit dem Ende der römischen Epoche, erlaubt durch die Untersuchung der menschlichen Überreste wie auch der Grabbeigaben in einer großen Zahl von Gräbern – vor allem Kleidungsstücke im weitesten Sinn (Waffen, Schmuck, Objekte zur Reparatur von Kleidungsstücken, religiöse Artefakte) – umfassende Rückschlüsse auf Gesundheitszustand, Entwicklung von demographischen Strukturen und fortschreitender Christianisierung, Kleidungscodes und gesellschaftlicher Stellung der Bestatteten nach chronologischen Phasen und gesellschaftlichen Gruppen.

      Eine Stadt an der Schnittstelle zwischen Mittelmeer und innerem Balkan

      Im Gegensatz zu Dalmace, einer im Mittelalter neuformierten Siedlung par excellence,