Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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8m hohe Stadtmauer aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. gleichsam geerbt hatte; diese Mauer umspannte drei Viertel des Burghügels. An der Mündung des Drin und an der Römerstraße gelegen, die in nordwestlicher Richtung nach Naissus (heute Niš, Serbien) und die Donauprovinzen führte, beherrschte Lezha den Nordteil der albanischen Küstenebene zwischen Dyrrachium (heute der mittelalbanische Hafen Durrës) und Scodra/Shkodra und riegelte den Übergang vom gebirgigen Hinterland an die Küste ab (Abb 4 und 5).

      Die mittelalterliche Siedlung folgte nicht der antiken Anlage. Sie ist in kleinen Siedlungsinseln organisiert, die auf verschiedenen Plateaus des Hügels liegen. Die Siedlung ist so in eine Unterstadt, eine Mittel- und eine Oberstadt geteilt. In der Oberstadt mit der Burg und dem östlichen Friedhof lässt sich eine Siedlungsgeschichte von der Spätantike bis in die osmanische Zeit nachvollziehen. Fast an allen Stellen der Stadt ist die Bedeutung des Christentums feststellbar. In der Burg lag die 2013 teilweise ausgegrabene Kirche, die der Heiligen Maria Schnee/S. Maria ad nives zugeschrieben wird, die auf älteren spätantiken Elementen errichtet worden war. Die Dichte hochwertiger Gräber im Inneren der Kirche und die zahlreichen Umbauten lassen die Marienkirche als eines der wichtigsten Zeugnisse der sehr komplexen Geschichte Lezhas im Mittelalter erscheinen, bis sie im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts zu einem Munitionslager des osmanischen Heeres umgewandelt wurde. Seit dem 8. Jahrhundert verwaltete die Geistlichkeit auch den Gräberbereich: zwei Kirchen, eine davon mit einer sehr schönen Ikonostase in Steinmetzarbeit des 8.‒9. Jahrhunderts, dazu auch eine Zisterne und eine kleine Kapelle, liegen nördlich des Grabbereichs. Zwei Friedhöfe befinden sich nördlich und südlich außerhalb des hellenistischen Walls, während der Friedhof in der Burg die größte Ausdehnung besitzt. Eine archäologisch-anthropologische Untersuchung von 150 freigelegten Gräbern weist auf eine große Vielfalt von Grabtypen hin, was durch das lange Bestehen des Grabfelds und durch die Vielzahl von Bevölkerungsgruppen erklärt wird, die im Mittelalter in Lezha siedelten. Nach den Kleidungsarten zu schließen, kleideten sich die Einwohner Lezhas zu Beginn des Mittelalters sowohl in typisch mittelmeerisch-byzantinischer Weise als auch nach jener Art, die für die in Klan-Strukturen organisierten Bewohner des [<<115] Binnenlands charakteristisch war. Die Analyse von Grabbeigaben und Grabarchitektur ermöglicht es so, materielle Kultur und gesellschaftliche Organisation über viele Jahrhunderte nachzuverfolgen.

      2.4.2 Die Fundinterpretationen in der Mittelalterarchäologie der Provinz Vojvodina

      Miklós Takács, Budapest

      Die Vojvodina (heute Nordserbien), am Südwestrand der Karpaten gelegen, stellte ein ideales Feld für Forschungen zu politisch motivierten Deutungen archäologischer Funde aus dem Mittelalter dar. Seit der Wende zum 18. Jahrhundert erlebte das Gebiet mehrfache Herrschaftswechsel. Die ebenfalls wechselnden Eliten versuchten, ihre Macht mit historischen Argumenten zu untermauern. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verdrängte die Habsburgermonarchie die osmanische Herrschaft aus dem Karpatenbecken (Friedensverträge von Karlowitz/Sremski Karlovci 1699 und Passarowitz/Požarevac 1718) und nahm Gebiete in Besitz, die im Mittelalter Teile der Länder der ungarischen Stephanskrone gewesen waren. Bereits im Zuge des Landesausbaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden alte Siedlungen mehrmals mit Geländebegehungen, d. h. sozusagen mit archäologischen Methoden, bestimmt, da das mittelalterliche Urkundenmaterial überwiegend verloren gegangen war. In diesem Zusammenhang legte Graf Luigi Ferdinando Marsigli (1658–1730) die erste zusammenfassende Darstellung des römischen und mittelalterlichen materiellen Erbes der Region vor, wobei er historische Erkenntnisse für die Deutung der von ihm beschriebenen archäologischen Objekte heranzog. Die Interpretation archäologischer Funde bzw. Befunde war also bereits von Beginn an historischen Postulaten untergeordnet.

      Mittelalterforschung im ungarisch-serbischen Spannungsfeld der Donaumonarchie

      Seit der Gründung des Ungarischen Nationalmuseums im Jahre 1802 entwickelte die politische Elite des Königreichs Ungarn ein verstärktes Interesse an historischen Fragen, besonders am mittelalterlichen Erbe (→ Kap. 1.1). Freilich wurden im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Überreste der mittelalterlichen materiellen Kultur im südlichen Teil des Karpatenbeckens noch nicht in Aufsätzen zur mittelalterlichen Geschichte behandelt. Sogar in der Revolution und dem ungarischen „Freiheitskampf“ von 1848/49, der in der Region als [<<116] erbittert geführter ungarisch-serbischer und ungarisch-rumänischer Konflikt ausgetragen wurde, berief sich die ungarische Regierung mit Blick auf den Südteil des Karpatenbeckens nur selten auf historische Argumente. Demgegenüber aber formulierte die serbische Nationalversammlung im Mai 1848 ihre Forderungen mit Verweis auf eine angebliche serbische Woiwodschaft im Karpatenbecken des 9. Jahrhunderts.

      Aufgenommen wurde die archäologische Forschung in diesem Raum nach dem österreichisch-ungarischen bzw. dem ungarisch-kroatischen Ausgleich (1867 bzw. 1868) sowie nach der Aufhebung der Militärgrenze (1869–1873). Damals wurden zwei Drittel des Raumes der ungarischen, ein Drittel der kroatischen Krone unterstellt. Die kroatischen Archäologen der Bodendenkmalpflege in Syrmien (östliche Hälfte: Srem, Serbien, westliche Hälfte: Zapadni Srijem, Kroatien) organisierten ein Netzwerk sog. Vertrauensmänner (örtliche Lehrer, Notare, Beamte), was maßgeblich zur Erschließung der römischen Großstadt Sirmium (kr. Srijemska Mitrovica, srb. Sremska Mitrovica) beitrug. Lokalen Initiativen sind wesentliche Funde und Befunde in den Regionen Batschka und Banat in der Zeit des Dualismus (1867–1918) zu verdanken. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden mehrere Regional- bzw. Komitatsmuseen in den südlichen Teilen des damaligen Ungarn eingerichtet.

      Zumeist waren die archäologischen Forschungen Ergebnis nicht der Förderung durch das Ungarische Nationalmuseum in Budapest, sondern durch kleinere Museen. Im Dualismus blieb die Zahl der Fragestellungen der Mittelalterarchäologie beschränkt. Zumeist wurden Gräberfelder der Völkerwanderungszeit freigelegt und Grabungen zu Reihengräberfeldern des 10./11. Jahrhundert durchgeführt. Alte Bauten wie Kirchen- oder Burgruinen wurden nur ausnahmsweise erschlossen, und wenn überhaupt, dann auf Betreiben des Landesdenkmalamts in Budapest. Die Gründe für die Zurückhaltung der serbischen Eliten bei der Förderung archäologischer Forschungen lassen sich nur erahnen. Wahrscheinlich war der Widerspruch zwischen der eigenen Meistererzählung und den Befunden aus der entstehenden archäologischen Forschung zu stark. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Fundmaterial von Reihengräberfeldern die älteste archäologische Hinterlassenschaft von Slawen in diesem Raum festgestellt. Dies stand [<<117] in deutlichem Widerspruch zur serbischen These, wonach die sog. „Altserben“ bereits seit der späten Sarmatenzeit (3./4. Jahrhundert n. Chr.) im südlichen Teil des Karpatenbeckens die Mehrheit gebildet hätten.

      Mittelalterarchäologie und Staatspolitik in den beiden Jugoslawien

      Der politische Umbruch von 1918, d. h. die Eingliederung der Region in das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (ab 1929: Jugoslawien) brachte einen völligen Umbruch auch in der archäologischen Forschung. Nun befanden sich viele der unter dem Dualismus eingerichteten Museen außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen (Vertrag von Trianon 1920). In der Zwischenkriegszeit war nur das Nationalmuseum in Belgrad für die Erfassung und Sammlung archäologischer Funde zuständig. Die wenigen Grabungen bezogen sich nur zu einem geringen Teil auf die Völkerwanderungszeit bzw. das Mittelalter. So wurde in Südost-Syrmien eine kleine Notgrabung in einem Gräberfeld der Awarenzeit (8. Jahrhundert n. Ch.) durchgeführt. Die kurze Auswertung durch Djordje Mano-Zissi (srb. auch Mano-Zisi, 1901–1995) stützte sich auf Arbeiten des tschechischen Archäologen Lubor Niederle (1865–1944) und betrachtete das Gräberfeld von Batajnica (nahe Belgrad) als Hinterlassenschaft nicht nur von Awaren, sondern vielmehr von Slawen.

      Die Jahreswende 1944/45 brachte dem südlichen Karpatenbecken nicht nur die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Rote Armee, sondern für Jugoslawien auch die Machtübernahme der kommunistischen Partisanen unter Josip Broz, genannt Tito (1892–1980). Damit verbunden war die Rückgliederung der Vojvodina in das nunmehr kommunistische Jugoslawien, und zwar als Autonome Provinz der Teilrepublik Serbien. Es setzte auch der Aufbau eines neuen Macht- und Gesellschaftssystems nach bolschewistischem Muster ein. Bis zum Bruch Titos mit