Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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href="#ulink_7dae5677-db7e-58d2-909f-abf782d13b3f">Abb 3) entdeckte.

      Es waren jedoch vor allem die Gelehrten des späten 19. und beginnenden 20 Jahrhunderts, wie Konstantin Jireček (1854–1918), Karel (1859–1944) und Hermengild Škorpil (1858–1923), Fjodor Uspenskij (1845–1928) sowie Vasil Zlatarski (1866–1935), die neu entdeckte Inschriften in die wissenschaftliche Diskussion anhand von kritischen Editionen einführten und für Fragen der bulgarischen Geschichte nutzbar machten. Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts stand die vertiefende Erforschung der bereits bekannten Inschriften im Vordergrund, aus der sich bisweilen eine rege Diskussion entwickelte.

      Die eingehendste wissenschaftliche Bearbeitung und Edition der proto-bulgarischen Inschriften besorgte Veselin Beševliev (1900–1992) in deutscher Sprache im Jahr 1963. Die Gesamtedition wurde unter Ergänzung neu entdeckter Inschriften im Rahmen der 1992 erschienenen [<<126] zweiten Auflage der bulgarischen Ausgabe von 1979 aktualisiert und stellt damit den Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema dar.

      Inschriften als Quellen für die bulgarische Geschichte

      Die proto-bulgarischen Inschriften besitzen einen außerordentlichen Wert für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs, das sich ab 680/681 am Unterlauf der Donau etablierte. Durch sie verfügt die Forschung über einzigartige Zeugnisse, die den Ereignisverlauf aus Sicht der Bulgaren, also meist der ihrer Herrscher, bieten. Ansonsten stellen die von außen über das frühmittelalterliche Bulgarien berichtenden byzantinischen oder in geringerem Maße dem lateinischen Westen oder der islamischen Welt entstammenden Quellen die einzige Überlieferungsgrundlage dar. Die Inschriften gehören nicht nur zu den wichtigsten Quellen für die bulgarische Geschichte, sie stellen aufgrund des linguistischen Materials in Form von Namen und Titeln eine entscheidende Grundlage für Beobachtungen zur Sprache der „Proto-Bulgaren“ dar. Zugleich erlauben sie einen Blick auf deren Sozialstrukturen, Machtverhältnisse, Kult und Religion. So werden in verschiedenen Inschriften Titel wie Boilas, Bagainos, Kana, Tarkanos sowie unterschiedliche Zusammensetzungen von Titeln genannt, die sich Ämtern bzw. Positionen zuordnen lassen. In einer Inschrift werden beispielsweise Boilen, Bagainen und Bulgaren unterschieden, worin vermutlich soziale Schichten innerhalb des bulgarischen Reichs zu erkennen sind.

      Veselin Beševliev teilte die Inschriften in seiner Edition in die Themenbereiche „Res gestae“ (d. h. „Ereignisse“), „Siegessäulen“, „Friedensverträge“, „Militärinschriften“, „Bauinschriften“, „Grabinschriften“ sowie „Unbestimmte Fragmente“ und schließlich „Varia und Dubia“ ein. Damit sind die zentralen inhaltlichen Aspekte erfasst. In den meisten komplett lesbaren Inschriften verkündet ein bulgarischer Herrscher ein Ereignis oder eine Maßnahme, sei es einen militärischen Sieg, den Bau eines Palastes oder den Abschluss eines Vertrages. Allerdings sind zahlreiche Inschriften nur als Fragmente erhalten und bieten oft nicht mehr als bloße Namen oder Wortfetzen.

      Die meisten Diskussionen wurden um mehrere, teilweise schwer zu entziffernde Inschriften am Reiterrelief von Madara in der Nähe von Šumen geführt, an deren Zustandekommen vielleicht mehrere bulgarische Chane beteiligt waren. Folgt man der Lesung Veselin [<<127] Beševlievs, so würden wir dort mit einer Chan Tervel († ca. 717/721) zugeschriebenen Inschrift auch die früheste der heute bekannten proto-bulgarischen Inschriften erkennen können, doch bleiben bei der vorgeschlagenen Lesung gewisse Zweifel.

      Ein interessantes Beispiel stellt eine Bauinschrift Chan Omurtags († ca.830) dar, die im Jahre 1905 auf einer nahe der Ortschaft „Khan Krum“ gefundenen Marmorsäule entdeckt wurde und von der Errichtung eines Palastes am Fluß Tiča in Nordostbulgarien berichtet. Den Palast glaubt man durch archäologische Grabungen in der Nähe des Fundortes identifiziert zu haben. In dieser Inschrift wird auch zum ersten Mal der Name Pliska erwähnt, und zwar zusammen mit dem griechischen Wort „kampos“, das meist im Sinne von „Feld“ gebraucht wird. Jenes Pliska wird dort als momentaner Aufenthaltsort des Chans bezeichnet. Dieser Fund begründete die Identifikation Pliskas als Hauptstadt des Ersten Bulgarischen Reichs. Eine weitere Bauinschrift des gleichen Chans erwähnt den Bau eines Hauses an der Donau, welches aufgrund jüngerer Forschungen vielleicht in Silistra gefunden wurde. Aus anderen Inschriften lassen sich hingegen beispielsweise in den übrigen Quellen nicht erwähnte Kriegszüge oder Details von Friedensverträgen erschließen.

      Die proto-bulgarischen Inschriften stellen somit ein äußerst wichtiges Zeugnis für die Geschichte des Ersten Bulgarischen Reichs dar, die das Bild jener Zeit entscheidend bereichern können. Viele Fragen bleiben jedoch Gegenstand der Diskussion und Interpretation. Vor allem von den fortdauernden archäologischen Forschungen in Pliska und an anderen Orten lassen sich in Zukunft weitere Inschriftenfunde erhoffen.

      2.4.5 Die Siegel des mittelalterlichen Bulgarien 864–971

      Ivan Jordanov, Šumen

      Bedeutung der Siegel für die mittelalterliche bulgarische Geschichte

      Ähnlich wie die im vorigen Kapitel vorgestellten proto-bulgarischen Inschriften sind Siegel ein besonders wichtiger Teil der Überlieferung zum mittelalterlichen Bulgarien, für welches Schriftquellen nur sehr begrenzt vorhanden sind. Die wichtigsten schriftlichen Informationen stammen aus byzantinischen Texten, welche demgemäß byzantinische Sichtweisen zum Ausdruck bringen. Die Siegel und die Wissenschaft, [<<128] die sich mit ihnen beschäftigt, die Sphragistik (griech. sphragís, Siegel), dienen hier als Korrektiv. Darüber hinaus sind Siegel bisweilen die einzige Informationsquelle überhaupt. Ihre Untersuchung stellt eine der wenigen Möglichkeiten dar, direkte Hinweise auf die mittelalterliche bulgarische Herrschaft und ihre Repräsentation zu erlangen. Dafür können zwei Typen von Siegeln als Quellen herangezogen werden. Erstens Siegel von Vertretern des bulgarischen Reichs und zweitens byzantinische Siegel, von denen auf dem Gebiet des heutigen Bulgarien mehr als 3500 Stück dokumentiert sind, die verschiedene Funktionen aufweisen. Für die Zeit des Ersten und Zweiten Bulgarischen Reichs, also von 681 bis 971 und von 1185 bis 1393, erhellen sie die Beziehungen zwischen Bulgarien und Byzanz. In den Jahren, als Bulgarien Teil des Byzantinischen Reichs war (971–1185), beleuchten sie die Kontakte zwischen der Reichshauptstadt Konstantinopel und der bulgarischen Peripherie des Reichs sowie zwischen dem Verwaltungszentrum und der Provinz.

      Forschungsgeschichte

      Schon in der Zeit der „Nationalen Wiedergeburt“, wie auch in Bulgarien die Nationalbewegung genannt wurde (→ Kap. 1.2), als noch kein moderner bulgarischer Staat bestand (spätes 18. Jahrhundert bis 1878), erwachte das Interesse an den Siegeln, deren Erforschung als Beitrag zur Begründung und Legitimation einer frühen „nationalen“ bulgarischen Geschichte verstanden wurde. Die früheste Erwähnung eines mittelalterlichen bulgarischen Siegels findet sich in der „Slavenobulgarischen Geschichte“ des Mönchs Paisij Hilendarski (1722–1773) aus dem Jahre 1762. Sie bezieht sich auf ein silbernes Siegel des Zaren Ivan Aleksandăr († 1371), das heute im Kloster Chilandar (auf dem Mönchsberg Athos in Nordgriechenland) gemeinsam mit der sog. Urkunde von Mraca aus dem Jahre 1347 aufbewahrt wird.

      Die erste Veröffentlichung eines bulgarischen Siegels – des letzten bulgarischen Zaren Ivan Šišman († 1395) – stammt aus dem Jahr 1845, als der bulgarische Nationalaktivist und Mäzen Vasil Aprilov (1789–1845) diese Urkunde mit angehängtem Siegel aus dem Rila-Kloster (heutiges Südwestbulgarien) publizierte. Nach dem Ende der osmanischen Herrschaft in Bulgarien (1877/78) wurden grundlegende staatliche Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen und eine Universität geschaffen, wo unter anderem auch das Interesse an der Erforschung der bulgarischen Siegel gepflegt wurde. Die Entwicklung [<<129] moderner Wissenschaften und ihrer Methoden ging auch hier Hand in Hand mit politisch-nationalen Bestrebungen. Die erste Veröffentlichung eines einzelnen Siegels erfolgte 1901 in der angesehenen Revue numismatique und hatte den Direktor des Archäologischen Museums in Sofia, Václav Dobruský, zum Autor, der dabei zwei Zarensiegel vorstellte. Allmählich wuchs die Siegelsammlung des Nationalmuseums für Archäologie, deren Aufbau und Publikation mit der Gelehrtenpersönlichkeit von Nikola Mušmov (1869–1942) verbunden ist. 1925 veröffentlichte er seine für die Zeit grundlegende Arbeit „Münzen