Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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aus derselben Zeit (886–969). Einzig aus Siegeln wissen wir, welchen Titel der Thronfolger trug; er führte einen turksprachigen Titel – bagatur und kana irči tjuni („Prinz des morgigen Tages“). Nur durch Siegel belegt ist eine Reihe von ansonsten unbekannten Würdenträgern des Ersten Bulgarischen Reichs, wie der [<<134] Magister des bulgarischen Herrschers oder der Groß-Kurator des Herrschers (árchon) von Bulgarien (Abb 6.7). Einzig auf Siegeln bezeugt ist auch der sýnkellos der bulgarischen Patriarchen (mit kyrillischer Aufschrift; Abb 6.8) – ein weiterer Beleg für den herausragenden Quellenwert von Siegeln für die frühe bulgarische Geschichte.

      2.5 Ordnung ins Chaos? Das Handbuch De Administrando Imperio (948–952) des Konstantin Porphyrogénnetos

      Über die Entwicklungen im inneren Balkan und an der Nordküste des Schwarzen Meeres ist selbst zu Beginn des Hochmittelalters aus Schriftquellen nur wenig bekannt. Wie die frühe Geschichte von Kroaten und Bulgaren aus Inschriften und Siegeln, die Geschichte der Albaner aus der albanischen Sprache rekonstruiert werden kann, wurde in den voran gegangenen Kapiteln beschrieben. Wenn nun eine Schrift vorliegt, die von Konstantinopel, der byzantinischen Reichshauptstadt, aus einen Überblick über jene ethnischen Gruppen und neuen Herrschaften versucht, die von der Adria bis in die heutige ukrainische Steppe zwischen dem 7. und dem 10. Jahrhundert entstanden sind, dann ist ihr die Aufmerksamkeit der Forschung gewiss. De Administrando Imperio (DAI) ist, wie so häufig in der Geschichte mittelalterlicher Überlieferung, ein Kunstname, den ein Gelehrter – in diesem Fall Johannes van Meurs (1579–1639) – einer Abhandlung gab, die im griechischen Original als Schrift des Kaisers Konstantínos VII. an seinen Sohn Romanós (II.) bezeichnet wird. Meurs (Meursius) veröffentlichte 1611 die erste Ausgabe, die auf einer damals in Heidelberg liegenden (nun im Vatikan aufbewahrten) Handschrift beruhte. Weitere, kaum veränderte Editionen (bzw. Nachdrucke) folgten 1617, 1711, 1729 (venezianische Ausgabe byzantinischer Historiker) und 1864.

      Entstanden ist das DAI um die Mitte des 10. Jahrhunderts (ca.948‒ca.952). Unter Konstantínos VII. erreichte das Byzantinische Reich einen Höhepunkt kultureller Blüte. Der tiefen Krise, welche die Angriffe der Araber im Osten (seit dem zweiten Drittel des 7. Jahrhunderts) sowie im Mittelmeer (678 und 717 belagerten die Araber Konstantinopel) und der weitgehende Verlust der Balkanprovinzen im Westen ausgelöst hatten, wurde durch militärische Offensiven in Ostanatolien und zunehmend auch in Syrien sowie auf dem Balkan begegnet.

      Wissen ordnen

      Konstantínos VII. erlebte zwar die militärischen Triumphe des späten 10. Jahrhunderts selbst nicht mehr, doch trug er wesentlich zu einem Aufschwung des kulturellen Lebens in der Hauptstadt bei. Mit seinem Namen verbunden sind Abhandlungen, die Wissen zu verschiedenen Sachbereichen ordnen sollten, so etwa: De ceremoniis, ein [<<136] Zeremonienhandbuch des byzantinischen Hofes, und De thematibus („Von den Provinzen“), ein weitgehend auf antike Geographen gestützter Überblick über das Byzantinische Reich. In diesen Zusammenhang gehört auch das DAI. Es handelt sich um eine „geheime“, d. h. nicht für ein größeres Publikum, sondern im Sinn eines Fürstenspiegels (→ Kap. 3.3.1) für den Unterricht des Kronprinzen gedachte Schrift, worauf die geringe Zahl der Handschriften (vier) hindeutet. Die bedeutendste Handschrift ist der Codex Parisinus graecus N. 2009, der zwischen 1057 und 1081 abgeschrieben wurde. Das Werk behandelt

      • die Beziehung der sogenannten éthne („Völkerschaften“, d. h. ethnische Gruppen wie Petschenegen, Chazaren, Kiewer Rus’, Bulgaren, Magyaren) zu Byzanz und die Möglichkeiten, wie die byzantinische Außenpolitik diese Gruppen gegeneinander ausspielen könnte;

      • die Wünsche der éthne nach Geschenken, die von Byzanz als außenpolitisches Mittel eingesetzt wurden;

      • eine Schilderung der geographischen Lage, der politischen Entwicklung und „Sitten“ der Nachbarn von Byzanz.

      Die Forschung hat sich intensiv mit dem Aufbau des Werks beschäftigt und mit der Frage, ob es sich um ein einheitliches Werk oder um eine Zusammenfügung verschiedener Schriften handele. Sie hat drei Teile herausgearbeitet: als Kern der Schrift werden die Kapitel 14–42 angesehen, die als Abhandlung über die éthne zu bezeichnen sind; Kapitel 1–13 geben didaktische Anweisungen zur Außenpolitik, Kapitel 43–46 zu der zum Zeitpunkt der Abfassung aktuellen außenpolitischen Lage.

      Eine Frühgeschichte der Serben

      Das DAI ist von den Nationalhistoriographien der südosteuropäischen Länder und Russlands äußerst intensiv erforscht worden. Am Beispiel des Kapitels zur Frühgeschichte der Serben sollen methodische Aspekte der Deutung einer solchen Schrift veranschaulicht werden. Die Forschung geht davon aus, dass sich die slawische Gruppe der Serben im frühen 7. Jahrhundert auf dem Balkan ansiedelte, wobei dieser Vorgang in Schriftquellen mit Ausnahme des DAI kaum dokumentiert ist, was dessen Interpretation so wichtig und gleichzeitig auch so schwierig macht. Um 900 lag das Serbien (griech. Serblía) genannte Gebiet zwischen Kroatien und Bulgarien, wobei die Grenzpunkte Livno (heute in der Herzegowina, nahe der [<<137] bosnisch-kroatischen Grenze) und Raška (heute: Region Novi Pazar, Südwestserbien) waren. Serbien befand sich im Spannungsfeld dieser beiden südosteuropäischen Nachbarn, die zu Beginn des 10. Jahrhunderts auch militärisch aufeinanderprallten (924 Sieg des kroatischen Herrschers Tomislav über ein Heer des bulgarischen Zaren Simeon), sowie von Byzanz und dessen Militärprovinzen (Thémata) Dalmatien (um Iadera/Zadar) und Dyrrháchion (heute: Durrës, Albanien). Die Christianisierung wird in die Zeit um 870 gesetzt (→ Kap. 2.3), verlief aber als langsamer Prozess.

      Kapitel 32 des DAI erzählt zunächst von der Ansiedlung der Serben auf dem Balkan unter Kaiser Herákleios († 641): Geführt worden seien sie von zwei Brüdern, von denen dem einen bei Thessalonike, dem anderen im nordgriechischen Ort Sérvia Wohnorte zugewiesen worden seien. Der Kaiser erklärt die Herkunft des Namens „Serbe“ aus dem Wort für Diener und Begriffen für einfaches Schuhwerk (griech. sérbyla, tzerbulianoí als Träger von einfachen Schuhen). Nachdem die romanische Bevölkerung (unter dem Druck von Awaren und Slawen) von der mittleren Donau an die Adria geflohen war, ließen sich die Serben mit Erlaubnis des Kaisers weiter im Norden nieder, wurden von Rom aus getauft und blieben Untertanen des Kaisers. An diese Frühgeschichte schließt sich eine Genealogie der serbischen Herrscher, die bis in das frühe 10. Jahrhundert immer ausführlicher wird. Großen Wert legt die Schrift auf die Stellung der serbischen Herrschaft zwischen Kroaten und Bulgaren, wobei letztere als Rivalen von Byzanz auf dem Balkan besonders interessieren. Wiederholt flohen serbische Fürsten nach Byzanz oder Kroatien, um Hilfe gegen das übermächtige Bulgarien (vor allem zur Zeit von Zar Simeon, † 927) zu suchen. Das Kapitel endet mit der Bemerkung, die Serben seien immer Untertanen von Byzanz gewesen.

      Die Forschung hat das Kapitel des DAI zur serbischen mit jenen zur kroatischen Frühgeschichte verglichen und dabei festgestellt, dass in beiden Fällen die Ansiedlung durch Kaiser Herákleios als Motiv betont wird. Angenommen wird, dass beide Teile aus einer Quelle stammen, die die byzantinische Souveränität über den gesamten Balkan unterstreichen möchte. Der Einleitungsteil zur Einwanderung wurde in der Analyse getrennt von dem Kern des Kapitels 32, den die Forschung als „Chronik der serbischen Herrscher“ bezeichnet. [<<138] Hier wird angenommen, dass der Verfasser des DAI eine eigene, den politischen Verhältnissen Serbiens gewidmete Schrift heranzog und in das Werk integrierte.

      Die Chronik der serbischen Herrscher

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