Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
Скачать книгу
Verteidigung des Kirchenslawischen

      Die kurze Schrift teilt sich in eine knappe Geschichte des griechischen Alphabets; die Erzählung von der Schaffung des neuen slawischen Alphabets; sowie eine Verteidigung des Kirchenslawischen gegenüber den Verfechtern der Dreisprachenlehre, wonach nur das Griechische, Lateinische und Hebräische als heilige Sprachen anzusehen seien.

      I. Früher als die Slawen noch Heiden waren und keine Bücher hatten, lasen und wahrsagten sie mit Hilfe von Strichen und Schnitzen.

      II. Als sie aber Christen wurden, versuchten sie die slawische Sprache mit römischen und griechischen Buchstaben niederzuschreiben, ohne einer [<<106] Ordnung zu folgen. Aber wie kann man mit griechischen Buchstaben „Bogъ“ (Gott) oder „životъ“ (Leben) oder „selo“ (Dorf) oder „crьkovь“ (Kirche) oder „čaanie“ (Hoffnung) oder „širota“ (Breite) oder „jadь“ (Gift) oder „ọdru“ (woher) oder „junostь“ (Jugend) oder „jazykъ“ (Sprache) und andere diesen ähnliche Wörter gut schreiben? Und so ging es viele Jahre.

      III. Dann aber ließ Gott, der Menschenfreundliche, der alles lenkt und das menschliche Geschlecht nicht unwissend lässt, sondern alle zur Erkenntnis und Erlösung führt, seine Gnade über dem slawischen Volk walten, und schickte ihm den Heiligen Konstantin, den Philosophen, der (als Mönch) Kyrill genannt wurde, einen gerechten und wahrhaftigen Mann. Und er schuf 38 Buchstaben, einige nach griechischem Vorbild, die anderen aber der slawischen Sprache entsprechend.

      Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“: https://tu-dresden.de/die_tu_dresden/fakultaeten/fakultaet_sprach_literatur_und_kulturwissenschaften/slavistik/einblicke/slav_schriften/chrabr_uebersetzung-2.pdf, S. 2, Zugriff: 26. 05. 2016

      Chrabar verortet also die Schaffung des Alphabets auf der Zeitachse und stellt der bücherlosen heidnischen Zeit die neue Epoche des Christentums gegenüber. Frühere Schriftsysteme sind ihm zwar bekannt, doch seien sie aus unterschiedlichen Gründen abzulehnen. Die vorchristlichen „Striche und Schnitze“ sind heidnisch, das griechische und lateinische Alphabet können die slawischen Wörter „Gott, Leben, Dorf, Kirche“ – dies sind nicht zufällig die ersten vier Begriffe, die er nennt – nicht wiedergeben. Dies stellt Chrabar als kulturelles Defizit dar; dass damit auch ein heilsgeschichtlicher Mangel verbunden war, zeigt er in Abschnitt III. Denn die Schaffung des neuen kyrillischen Alphabets wird der göttlichen Gnade zugeschrieben. Dies dient der Erhöhung der neuen Schrift, aber auch deren Rechtfertigung gegenüber Traditionalisten. Er folgt damit einer Deutung, die schon in der Vita des Konstantin/Kyrill entfaltet wird:

      […] bald offenbarte ihm Gott, der die Gebete seiner Diener erhört, die Schrift. Und dann setzte er die Buchstaben aneinander und begann den Wortlaut des Evangeliums aufzuschreiben.

      Übersetzung hier: Joseph Bujnoch, Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita (Graz u. a. 1958), S. 67. [<<107]

      Die Verfechter der neuen Liturgiesprache mussten sich auch vor jenen rechtfertigen, die nur das Lateinische, Griechische und Hebräische für heilige Sprachen hielten:

      VI. Wieder andere sagen: Wozu brauchen wir slawische Bücher? Diese haben ja weder Gott noch die Engel geschaffen, und es gab sie nicht von jeher wie die hebräischen, römischen und griechischen, die seit alters her bestehen und gottgefällig sind. Noch andere glauben, dass Gott selbst uns die Buchstaben geschaffen hat. Doch sie, die Verfluchten, wissen selbst nicht was sie da sagen, (wenn sie vorbringen,) dass Gott befohlen habe, dass die Bücher nur in drei Sprachen geschrieben werden sollen, wie es im Evangelium steht: „Und so wurde die Aufschrift auf Hebräisch, Römisch und Griechisch geschrieben“, von Slawisch war aber keine Rede, deswegen seien die slawischen Bücher nicht von Gott.

      Was sagen wir oder was entgegnen wir solchen Narren? Wir wollen aus der Heiligen Schrift antworten, so wie wir es gelernt haben, dass alles der Reihe nach von Gott kommt, nicht jedoch alles auf einmal. Gott schuf weder zuerst die hebräische noch die römische noch die griechische, sondern die syrische Sprache, die Adam gesprochen hat, und die dann von Adam bis zur Sintflut, und von der Sintflut bis zu der Zeit gesprochen wurde, als Gott die Sprachen verwirrte beim Turmbau zu Babel, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Als die Sprachen getrennt wurden, wurden, so wie die Sprachen getrennt wurden, auch die Sitten und Gebräuche, Vorschriften und Gesetze wie auch das Wissen unter den Völkern aufgeteilt: die Ägypter erhielten den Ackerbau und die Perser, Chaldäer und Assyrier die Astrologie, die Magie, die Medizin, Zauberei und alles Wissen, das menschlich ist. Die Hebräer aber erhielten die Heiligen Schriften, in denen geschrieben steht, wie Gott Himmel und Erde schuf und alles auf Erden und den Menschen und alles der Ordnung nach, so wie es (in der Schrift) geschrieben steht. Die Griechen bekamen die Grammatik, die Rhetorik und die Philosophie.

      Übersetzung hier: Marina Sharlaj/Holger Kuße, Der Mönch Chrabar, „Über die Buchstaben“ (s. o.).

      Chrabar steht wiederum in der Tradition der Konstantins-Vita, die von der „Dreisprachenhäresie“ spricht, also den Vorwurf der Ketzerei gegen die Traditionalisten erhebt. Der Verfasser der Konstantins-Vita bemüht zum einen die eigensprachlichen Traditionen der armenischen, [<<108] koptischen, georgischen und anderer orientalischer Kirchen, zum anderen stützt er sich auf eine lange Reihe von Zitaten aus dem Alten Testament (Psalmen) und Neuen Testament (Evangelien, Paulus’ Briefe an die Korinther), welche die Vielfalt und Gleichrangigkeit der Sprachen besonders für die Mission hervorheben, etwa

      Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium jeglichem Geschöpf […] Denen aber, die glauben, werden diese Zeichen folgen: in meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen werden sie sprechen. (Mk 16,15–17)

      Das Kirchenslawische setzte sich als neue Liturgiesprache durch. Dass Chrabars Text so oft abgeschrieben wurde, zeigt aber, dass das Bedürfnis nach Rechtfertigung nicht so rasch erlosch.

      Von Bulgarien aus wurde die altbalkanische und schon unter Rom christianisierte romanisierte Gruppe der Rumänen kirchlich und kulturell überschichtet: Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein wirkte das Altkirchenslawische als Liturgie-, Verwaltungs- und Literatursprache der romanischsprachigen orthodoxen Rumänen. Bleibende Spuren hinterließ die byzantinische Kulturpolitik auch in Regionen, die sich der Westkirche zuwandten. Im Norden Dalmatiens (Kvarner-Bucht) hatte sich um 1000 eine zweisprachige (lateinische und kirchenslawische) katholische Kirchenkultur entwickelt. Nur hier hielt sich dauerhaft die Verbindung von glagolitischer Schrift und (katholischer) Messe in kirchenslawischer Sprache.

      Diese glagolitische Schriftkultur in Teilen Dalmatiens entwickelte sich im Spätmittelalter zu einem regionalen Sonderphänomen, das im kroatischen Nationsdenken der Neuzeit mit besonderem Stolz hervorgehoben wurde. Tatsächlich wurde die komplizierte glagolitische Schrift ab dem 10. Jahrhundert von der kyrillischen Schrift abgelöst, die sich im Wesentlichen an der griechischen Unziale ausrichtet und Sonderzeichen nur für Laute aufweist, die im Griechischen nicht bestehen. Das kyrillische Alphabet prägt die Schriftkultur von Bulgaren, Makedoniern, Serben und Ostslawen bis heute. Einzig die Rumänen wechselten um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum lateinischen Alphabet, um damit – den zeitspezifischen nationalen Abgrenzungsbestrebungen entsprechend – ihren Charakter als romanisches Volk und eine politische Abkehr vom byzantinischen Osten zum lateinischen Westen sichtbar zu machen. Einen Sonderfall in [<<109] der europäischen Geschichte stellt die kroatische Kultur mit ihrer Dreischriftlichkeit dar: Im Mittelalter wurden die glagolitische, die kyrillische und die lateinische Schrift – diese als zeitlich letzte – nebeneinander für slawische Texte des katholischen Kulturmilieus verwendet und am Ende des 15. Jahrhunderts auch in das neue Medium des Buchdrucks überführt. Ausschließlich die lateinische Schrift kam für lateinische und italienische Texte im venezianischen Dialekt zum Einsatz.

      2.4 Die Materialität der Quellen: Archäologie und Architektur, dingliche und bildliche Überlieferung