Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Reichs zu einer der beiden kulturellen Sphären in Europa, ja sie erreichte in der Polemik zwischen dem Papsttum und dem machtbewussten Konstantinopolitaner Patriarchen Phótios (858–867, 877–886) einen neuen Höhepunkt.

      Der Übertritt der bulgarischen Führungsschicht zum Christentum ist mit mehreren Motiven zu erklären: Die Zugehörigkeit zur christlichen Religion bedeutete auch die Verstetigung der bulgarischen Reichsbildung im überregionalen, christlich geprägten Kontext. Sie bedeutete die endgültige Anerkennung des bulgarischen Reichs durch die beiden Kaisertümer und durch die auch politisch einflussreichen Kirchen. Sie machte die Bulgarenherrscher zu vollwertigen Vertragspartnern, deren Eide Gültigkeit besaßen. In der Folge sah sich Bulgarien aber massivem politischen Druck ausgesetzt. Es war durch ein Bündnis seiner Nachbarn im Süden und Norden, Byzanz und dem mährischen Reich, an zwei Fronten gefährdet. Das bulgarische Gegenbündnis mit dem ostfränkischen Reich unter Kaiser Ludwig dem Deutschen (862), bei dem der bulgarische Chan Boris (852–889) versprach, sich taufen zu lassen, bedeutete nur eine teilweise Entlastung. Die Taufe der bulgarischen Elite fiel außerdem in eine Zeit, als das Reich von einer Hungersnot geschwächt war und Byzanz militärisch drohte (864/65).

      Die Missionierung der Bulgaren bildet einen Teil einer allgemeinen politischen und kulturellen Expansion des seit der Mitte des 9. Jahrhunderts erstarkten Byzantinischen Reichs auf dem Balkan. Getragen wurde sie von einer kleinen, hochgebildeten Gruppe von Geistlichen aus Thessalonike, allen voran den Brüdern Konstantin (später Kyrill) und Methodios, die schon früh in ihrer zu einem guten Teil von Slawen [<<99] bewohnten griechischen Heimat die slawische Sprache erlernt hatten. Nach einer Ausbildung an den besten Bildungsstätten Konstantinopels stieg besonders Konstantin zu einem führenden Theologen der byzantinischen Kirche auf, die er u. a. im Bagdader Kalifat bei Streitgesprächen mit muslimischen Geistlichen vertrat, aber auch bei der Missionierung des Steppenvolkes der Chazaren (in der heutigen Ukraine). Als 862 der Herrscher des mährischen Reichs, Rastislav († 870), von Byzanz Missionare erbat, fiel die Wahl des Kaisers Michael III. auf den erfahrenen und auch sprachlich qualifizierten Konstantin. Rastislav hatte ähnliche Motive wie nach ihm der Bulgarenchan Boris: Er war bedrängt vom ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen, dem Verbündeten der Bulgaren, und wollte sein eigenes überlebenswichtiges Gegenbündnis mit Byzanz durch einen Übertritt zum Christentum byzantinischer Prägung absichern.

      Eine eigene Kirchensprache

      Konstantin und Method missionierten also die Slawen im mährischen Reich – und nicht etwa die weiter südlich lebenden Balkanslawen. Ein geradezu revolutionärer Schritt wurde durch die Missionare vollzogen, als sie für die neuen Gläubigen eine eigene Kirchensprache, das sog. Altkirchenslawisch, und ein eigenes Alphabet, die Glagolica, entwickelten. Frühe archäologische Belege in Form von Scherben mit glagolitischen Buchstaben wurden erst kürzlich im mährischen Zentralort Zalavár/Mosaburg gefunden. Die Ursprünge der glagolitischen Schrift sind umstritten. Bezüge zu semitischen und koptischen (christlich-ägyptischen) Vorbildern wurden ebenso hergestellt wie zu christlich-kaukasischen (georgischen, armenischen) Schriftsystemen. Konstantin und Method brachten Übersetzungen liturgischer und biblischer Schriften in ihr Missionsgebiet mit und legten damit die Grundlage einer slawischen Schriftkultur. Diese sollte ein Gegengewicht zur lateinischsprachigen Kirche des fränkischen Reichs bilden, zu den römischen Einflüssen und v. a. jenen der bayerischen Kirche in Mähren. Dies rief den heftigen Widerstand sowohl der Kirche im ostfränkischen Reich wie in Rom hervor. Einen Einblick in die Interessenslage aus deren Blickwinkel gibt z. B. die Salzburger Überlieferung (→ Kap. 2.3.1).

      Konstantin verteidigte in Italien die Berechtigung einer weiteren Kirchensprache neben den klassischen Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein. Der Papst lud die beiden Brüder nach Rom ein, wo sie [<<100] ehrenvoll empfangen wurden. Konstantin starb dort bereits 869. Method handelte nach dem Tode Konstantins im Dienst Roms, das ihn noch in demselben Jahr als Erzbischof von Sirmium (heute Sremska Mitrovica, nahe Belgrad) einsetzte. Damit sollte die alte kirchliche Metropole des nördlichen Balkans wiederbelebt und als Gegengewicht zum byzantinisch kontrollierten Erzbistum von Saloniki ausgebaut werden. Bei seiner Rückkehr ins mährische Reich fand er allerdings seinen Förderer Rastislav abgesetzt. Dafür war der Einfluss von dessen Gegnern im ostfränkischen Reich und besonders der bayerischen Bischöfe gestiegen. Method wurde zeitweise in einem oberdeutschen Kloster interniert. Zwar kam er wieder frei und konnte seine Tätigkeit bis zu seinem Tode 885 fortsetzen, doch wurde seine slawische Kirche danach von der lateinischsprachigen Kirche des ostfränkischen Reichs beseitigt, die Christen im pannonischen Raum der römischen Kirche angegliedert.

      Die Christianisierung der Bulgaren

      Das byzantinische Ausgreifen weit nach Ostmitteleuropa hinein war damit gescheitert. Viel erfolgreicher handelten Byzanz und das Patriarchat von Konstantinopel hingegen mit den zunächst für das mährische Reich entwickelten Missionsinstrumenten ‒ der neuen Liturgiesprache und dem neuen Alphabet – südlich der Donau. Denn dort gelang wesentlich unter politischem und militärischem Druck wohl 865 der Übertritt der Bulgaren zum Christentum byzantinischer Prägung. Die Christianisierung war ein politischer Akt, das zentrale Element die Taufe des bulgarischen Chans Boris († 907), der den Namen Michail annahm und damit die geistige Patenschaft des byzantinischen Kaisers Michael III. anerkannte. Vom Herrscher ausgehend, sollte die gesamte Führungsschicht, die Bojaren, den neuen Glauben annehmen. Dieser schnelle Bruch mit deren älteren religiösen Traditionen, der zudem mit der politischen Annäherung an den alten Gegner in Konstantinopel verbunden war, verlief nicht ohne erhebliche Verwerfungen. Von 100 Bojaren sollen sich 52 dem Chan und dessen neuen Glauben entgegengestellt haben; mit der Hilfe der 48 konvertierten Adeligen rang Boris-Michail den Aufstand nieder und ließ seine Gegner beseitigen. Damit hatte er zumindest für einige Jahre der „heidnischen“ Bojarenopposition das Genick gebrochen. Wesentliche Nachrichten über diese Vorgänge verdanken wir wieder erzählenden lateinischen Quellen aus dem Karolingerreich, in erster [<<101] Linie der Fortsetzung der Annales Bertiniani, die Hinkmar, dem Erzbischof von Reims († 882), zugeschrieben werden.

      Annales Bertiniani, ed. Georg Waitz, MGH Scriptores I (Hannover 1883), S. 85, Übersetzung Oliver Schmitt.

      Der König der Bulgaren, der durch Gottes Eingebung sowie durch Zeichen und Unglücksfälle im Volke seines Königreichs im Jahr zuvor erwogen hatte, Christ zu werden, nahm die heilige Taufe an. Da dies die Mächtigen übel aufnahmen, brachten sie das Volk gegen ihn auf, mit dem Ziel, ihn zu töten. Alle aus den zehn Grafschaften (comitatus) versammelten sich bei seinem Palast. Jener aber rief Christi Namen an und ging mit nur 48 Männern, die wegen ihrer glühenden christlichen Frömmigkeit bei ihm geblieben waren, gegen diese Menge vor; und kaum hatte er die Tore der Stadt verlassen, da erschienen ihm und jenen, die mit ihm waren, sieben Geistliche, und jeder von diesen hielt eine brennende Kerze in der Hand, und so schritten sie dem König und jenen, die mit ihm waren, voran. Jenen aber, die sich gegen ihn erhoben hatten, schien es, als ob eine große brennende Stadt auf sie herabstürzte, und die Pferde der Anhänger des Königs, so schien es den Gegnern, schritten aufrecht einher und traten sie mit den Vorderhufen; so große Furcht ergriff sie, dass sie weder zur Flucht noch zur Abwehr in der Lage waren, sondern sich zu Boden warfen und nicht mehr bewegen konnten. Der König aber tötete von den Mächtigen, die das Volk so gegen ihn aufgebracht hatten, zweiundfünfzig an der Zahl; das übrige Volk aber ließ er unbehelligt abziehen.

      Ergänzt wird dieser Bericht durch die 106 Antworten von Papst Nikolaus I. auf Fragen des Bulgarenherrschers, Responsa Nicolai I. Papae ad consulta Bulgarorum (866). Diese Responsa gaben Auskunft zu kirchenrechtlichen Fragen, zu Fragen des Alltags und des Brauchtums, die Boris-Michail stellte, um eine zuverlässige Einhaltung des christlichen Ritus sicherzustellten, denn dieser wurde eng mit dem Herrscherheil und damit dem Wohlergehen der Gefolgschaft und des Herrschaftsgebiets in Verbindung gebracht.

      Zwischen Byzanz und Rom

      Kurz nach der Bekehrung zeigte sich aber ein Phänomen, das später auch bei den Serben hohe Bedeutung gewinnen sollte. Um den starken byzantinischen Einfluss auszugleichen und enttäuscht von dem mangelnden Entgegenkommen der byzantinischen Seite in wichtigen kirchenrechtlichen Fragen, wandte sich Chan Boris-Michail an die [<<102] römische Kirche und forderte insbesondere