Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Periode der Forschungsgeschichte wurde von Todor Gerasimov (1903–1974) geprägt. Er veröffentlichte Dutzende unbekannter bulgarischer Siegel aus Pliska, Preslav und anderen Fundorten, darunter auch das Siegel des ansonsten nirgends belegten bulgarischen Patriarchen Visarion († 1246). (Cover-Abb und Abb 1)

      1990 erschien eine Neufassung von Mušmovs Werk durch Jordanka Jurukova und Vladimir Penčev „Siegel und Münzen des mittelalterlichen Bulgarien“ mit mehr als 20 Beispielen; 2001 das „Corpus der Siegel des mittelalterlichen Bulgarien“ von Ivan Jordanov. Dieses Corpus umfasst 197 sigillographische Denkmäler, darunter 4 Goldbullen (Chrysobullen), 3 Silberbullen (Argyrobullen), 170 Bleibullen (Molybdobullen), sieben Matrizen und 13 Ringsiegel. Dieser sprunghafte Anstieg der dokumentierten Überlieferung hat auch mit heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen wie der Schatzgräberei, d. h. der Suche nach vor allem thrakischen Grabmälern, zu tun, die nach dem Ende des Kommunismus wegen nicht ausreichender staatlicher Kontrolle und starker Nachfrage auf dem internationalen Kunstmarkt überhandgenommen hat. Doch erschöpft sich damit die Zahl der bulgarischen Siegel nicht. 2003 wurde ein erster Ergänzungsband mit 20 neuen bulgarischen Siegeln gedruckt. Damals betrug ihre Zahl rund 350 Stück. Es ist sehr zu begrüßen, dass die neuen Funde der letzten Jahre unmittelbar im Rahmen archäologischer Grabungen erfolgt sind. Eine Neuausgabe des „Corpus“ ist in Vorbereitung.

      Methoden der Auswertung

      Die ersten aus dem mittelalterlichen Bulgarien überlieferten Siegel stammen im Zusammenhang mit der Christianisierung seit 864 vom ersten christlichen Herrscher Boris-Michail sowie vom ersten [<<130] bulgarischen Bischof Isaja. Die Überlieferung legt nahe, dass Siegel sehr wahrscheinlich als spezifisch christliche Form der Herrschaftsrepräsentation interpretiert werden können, da sie zeigten, dass die irdische Herrschaft vom christlichen Gott her stammte. Daher werden auf der Vorderseite (Avers) der Herrschersiegel Jesus Christus und auf der Rückseite (Revers) dessen irdischer Stellvertreter dargestellt.

      Bischof Isaja bekleidete den Bischofsstuhl von 864 bis 866 und war von Konstantinopel ausgewählt worden, um die Bulgaren zu christianisieren. Die Siegel von Boris, der nach der Annahme des Christentums den Namen seines Taufpaten, des byzantinischen Kaisers Michael III. († 867) wählte, unterteilen sich in zwei Gruppen. In der ersten Gruppe ist er „Herrscher (gr. árchon) von Bulgarien“ (Abb 6.1), ein Titel, der ihm nach der Taufe zuerkannt worden war; in der zweiten Gruppe erscheint er als Mönch und von Gott eingesetzter Herrscher Bulgariens (Abb 6.2). Nach seiner Abdankung im Jahre 889 ging Boris-Michail in ein Kloster, doch erfahren wir aus dem Siegel, [<<131] dass er seine Funktion als Herrscher behielt: Als sein Sohn Vladimir-Rasate versuchte, wieder eine nicht-christliche Herrschaft zu errichten (→ Kap. 2.3.2), verließ er folgerichtig das Kloster und vertrieb seinen Sohn 893 aus der Hauptstadt.

      Der Höhepunkt des bulgarischen Mittelalters

      Boris-Michails Nachfolger Simeon I. († 927) ist aus mehr als 80 Siegeln bekannt. Diese können in fünf Gruppen unterteilt werden und veranschaulichen seine Politik, die Souveränität des bulgarischen Reichs zu befestigen. Nach der byzantinischen Vorstellung kam dem byzantinischen Kaiser eine führende Stellung unter den Herrschern der bekannten Welt (Oikuméne) zu. Alle anderen Herrscher verwalteten nach dieser Vorstellung in seinem Namen ihre Reiche. Ihre Stellung hing von dem Titel ab, den ihnen der byzantinische Kaiser verlieh. Feinheiten der byzantinischen Kaisertitulatur sowie Abstufungen bei kaiserähnlichen Titeln, die Byzanz Bulgarien zugestand, drücken die byzantinisch-bulgarische Rivalität auf dem Balkan und dann auch um die Nachfolge Roms symbolisch aus: Zu Beginn seiner Herrschaft trug Simeon als Erbe seines Vaters den Titel Herrscher (árchon) von Bulgarien, wie die Siegel dieser Periode belegen (Abb 6.3). Er hatte demnach die Politik seines Vaters übernommen. Auf der Reichsversammlung in Preslav (893), zu der das „Chronicon“ des Regino von Prüm († 915) die Hauptquelle darstellt, eröffnete ihm sein Vater, dass er das Schicksal seines Bruders erleiden werde, wenn er vom vorgegebenen Wege abwiche: und Vladimir-Rasate war nicht nur entthront, sondern auch geblendet worden. [<<132]

      Abb 6.3 Bulgarische Siegel, Simeon I., Frühphase. [Bildnachweis]

      Simeon trug den árchon-Titel bis zum Jahre 913. Dann aber wurde dieser Titel weder seinen Ambitionen noch den politischen Gegebenheiten mehr gerecht: Das bulgarische Reich war gefestigt und befand sich kulturell und wirtschaftlich im Aufschwung, während Byzanz unter einer langwährenden Krise litt. Auf dem Thron saß der minderjährige Konstantin VII. Porphyrogénnetos († 959), und an seiner Stelle führte eine Regentschaft die Staatsgeschäfte. Ein Anlass zum Krieg wurde gefunden, und bald erschien das bulgarische Heer vor Konstantinopel. Verhandlungen führten zu einem Abkommen, das die Heirat von Simeons Tochter mit dem minderjährigen Kaiser vorsah und Simeon den Titel „Kaiservater“ (basileopátor) verlieh, was mit der Herrschaft über das Byzantinische Reich verbunden war. Von Simeons Siegeln erfahren wir die ansonsten unbekannte Tatsache, dass er 913 den Titel basileús (Kaiser) trug. Auf diesen Siegeln steht zu lesen „Simeon, dem friedenschaffenden Kaiser, viele Jahre“ (Abb 6.4). Der Titel des byzantinischen Kaisers hingegen lautete „Kaiser und Selbstherrscher der Römer“. Simeons Titel, der also nur einen Teil des byzantinischen Kaisertitels umfasste, stellte aus byzantinischer Sicht den äußersten Kompromiss dar; denn so war das Reich ein Jahrhundert zuvor auch in der Frage der Anerkennung des Kaisertitels Karls des Großen († 814) verfahren.

      Abb 6.4 Bulgarische Siegel, Simeon I. als basileús. [Bildnachweis]

      Nach Simeons Abzug wurde in Konstantinopel die Regentschaft gestürzt. Die neue Regierung kündigte den Friedensvertrag mit Bulgarien auf, was einen neuen Krieg auslöste. In der Schlacht bei [<<133] Anchíalos (heute: Pomorie, Schwarzmeerküste) schlug Simeon das byzantinische Heer und marschierte kurz darauf wieder vor Konstantinopel auf. Aus der nächsten Siegelgruppe erfahren wir, dass er sich selbst zum „Basileús der Römer“, also zum Oberhaupt der Familie der christlichen Könige, ausrief. Auf dem Avers dieser Gruppe wird Christus Pantokrátor (der Allbeherrscher) und die Akklamation „Dem siegreichen Basileús viele Jahre“ dargestellt. Auf dem Revers erscheint der siegbringende Herrscher mit der Aufschrift „Simeon in Christo Basileús der Römer“ (Abb 6.5). Dieser Anspruch auf die Herrschaft über Byzanz wäre freilich nur Wirklichkeit geworden, wenn Simeon als Sieger in Konstantinopel eingezogen und in der Hagia Sophia gekrönt worden wäre.

      Abb 6.5 Bulgarische Siegel, Simeon I. als „Basileús der Römer“. [Bildnachweis]

      Von Simeons Nachfolger Petăr I. († 969) liegen 20 Siegel vor. Sie veranschaulichen die schwierige Herrschaftszeit dieses Zaren. Hervorzuheben ist, dass die bislang griechischen Aufschriften und die bislang byzantinischen Titel durch die kyrillische Schrift und die slawische Sprache ersetzt werden: „Zar der Bulgaren“ (Abb