Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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seinerseits zwei Bischöfe – Formosus von Porto und Paulus von Populonia – nach Bulgarien. Diese verdrängten zwei Missionarsgruppen, die sie dort vorfanden, nämlich die griechischen Mitarbeiter des Patriarchats von Konstantinopel zum einen, dann aber auch die aus dem fränkischen Reich von Bischof Hermanrich von Passau geschickten Missionare. Rom wollte die Aufgabe der Bulgarenmission ganz an sich ziehen, den Bulgaren aber ebenfalls keine kirchliche Autonomie zugestehen. Als Boris-Michail einen der beiden italienischen Bischöfe zum Erzbischof erheben lassen wollte – also zum Oberhaupt einer eigenen bulgarischen Kirchenorganisation –, lehnte der Papst dieses Ansinnen ab.

      Die Argumente des Patriarchen Phótios

      Als also recht bald Spannungen zwischen dem Chan und dem Papst auftraten, begann Patriarch Phótios, die römische Kirche heftig anzugreifen. Er verglich die römischen Missionare im von Byzanz beanspruchten Bulgarien mit dem legendären „Eber im Weinberg Gottes“ und listete erstmals die Streitpunkte mit Rom und Paulus von Populonia auf, die bis heute von Bedeutung sind:

      • die lateinische Fastenordnung;

      • den Priesterzölibat, den die byzantinische Kirche nicht kannte;

      • die bischöfliche Firmung;

      • und das Filioque (d. h. die Frage, ob der Heilige Geist nur vom Vater durch den Sohn ausgehe, wie in der Orthodoxie üblich, oder a patre filioque, d. h. „vom Vater und dem Sohne“ wie im römischen Glaubensbekenntnis festgehalten).

      Patriarch Phótios ging so weit, Papst Nikolaus I. zu exkommunizieren (867). Die drohende Krise schien durch den Tod des Papstes und den Sturz des Patriarchen beigelegt zu sein, der sich wegen seiner allzu raschen kirchlichen Karriere angreifbar gemacht hatte, wenngleich der neue Papst Hadrian II. († 872) nun seinerseits nachträglich auf den Angriff des Phótios reagierte. Gleichzeitig verlor Rom aber das Ringen um die kirchliche Hegemonie in Bulgarien, da sich Rom und der Chan nicht auf einen Kandidaten für den Thron des Erzbischofs einigen konnten. Bulgarien schwenkte daher wieder auf die byzantinische Seite und akzeptierte 870 einen griechischen Erzbischof für die Reichshauptstadt [<<103] Pliska. Die zum Teil aus dem Patriarchat von Aquileia stammenden lateinischen Missionare mussten Bulgarien verlassen. Das Reich öffnete sich griechischsprachigen byzantinischen Geistlichen. Freilich blieb dies angesichts der jahrhundertealten Tradition der Feindschaft zwischen Bulgaren und Byzantinern nicht ohne Folgen. Als Boris-Michail 889 die Herrschaft an seinen Sohn Vladimir-Rasate übergab und sich in ein Kloster zurückzog, brach sich die „heidnische“ Reaktion Bahn, die wesentlich von Vladimir getragen wurde. Boris-Michail musste seine Klostereinsamkeit verlassen, um seinen Sohn zu stürzen und seinen zweiten Sohn Simeon († 927) an dessen Stelle zu setzen.

      Die kulturelle und religiöse Ausrichtung der Bulgaren nach Konstantinopel, der überwältigende Einfluss der griechisch-byzantinischen Kultur sollte eine Konstante der bulgarischen Geschichte bis in die Neuzeit hinein werden. Es sollte beinahe vier Jahrhunderte dauern, bis ein bulgarischer Herrscher sich wieder an Rom wandte, um sich von Konstantinopel zu lösen: Zar Kalojan handelte so kurz vor der Eroberung Konstantinopels durch die Teilnehmer des 4. Kreuzzuges (1204). Freilich übernahm Bulgarien von Byzanz nur den Glauben, nicht aber die griechische Kirchensprache.

      Die Mission im inneren Balkan

      Die Schaffung einer eigenen slawischen Kirchensprache ist für den gesamten slawischen orthodoxen Balkan von herausragender Bedeutung gewesen. Sie belegt auch die nun weitgehend abgeschlossene „Slawisierung“ der sogenannten Proto-Bulgaren (→ Kap. 2.1), die in der zahlenmäßig stärkeren Gruppe der Slawen aufgegangen waren. Die Integration der altbalkanisch-thrakischen Bevölkerung, der Slawen und der Proto-Bulgaren zu einem slawischsprachigen Volk, das seinen vermutlich turksprachlichen Namen beibehielt, wurde durch die Christianisierung entscheidend gefördert. Die Slawisierung der Bulgaren erhielt zudem einen neuen Schub, als das Reich den slawisch besiedelten makedonischen Raum eroberte, wo sich gegen Ende des 9. Jahrhunderts um die makedonischen Seen mit Ochrid ein zweites Zentrum der mittelalterlichen bulgarischen Kultur ausbildete, das neben dem alten östlichen Machtschwerpunkt um die Orte Pliska und der neuen Hauptstadt Preslav (unter Zar Simeon I., † 927) lag und in dem eine neue kirchenslawische Schreibschule entstand.

      Die Lange Klemensvita

      In Ochrid wirkten die Heiligen Klemens († 916) und Naum († 910), Angelarius und Gorazd († 900) als Missionare des inneren Balkans. [<<104] Zentrale Quelle ist ein Heiligenleben, die Vita des heiligen Klemens. Diese ist nicht etwa auf Kirchenslawisch erhalten; vielmehr handelt es sich um einen griechischen Text, der dem Erzbischof Theophýlaktos von Ochrid († 1107) zugeschrieben wird, einem für seinen Briefwechsel berühmten hochgelehrten Kirchenfürsten, der in einer Zeit wirkte, als das bulgarische Reich seit fast einem Jahrhundert (seit 1018) von Byzanz unterworfen war. Byzanz bemühte sich aber um die Respektierung der kulturellen und vor allem kirchlichen Traditionen des bulgarisch missionierten Balkans. So erklärt sich auch, weshalb ein griechischsprachiger Erzbischof die Vita eines Slawenmissionars verfasste.

      Die Quellen der sog. Langen Klemensvita (eine Kurze Vita entstammt der Feder von Demétrios Chomatenós, ebenfalls Erzbischof von Ochrid, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) sind umstritten: Theophýlaktos wird mündliche Überlieferung, wohl aber auch schriftliche Vorlagen aus der Ochrider Tradition verwendet haben. Die ältesten erhaltenen Handschriften sind rund vier Jahrhunderte nach Theophýlaktos’ Tod entstanden. Die erste Edition gab 1847 der bedeutende Wiener Slawist Franz von Miklosich heraus.

      Im Gegensatz zu den Bulgaren ist die Christianisierung im herrschaftlich weniger strukturierten Serbien im 9. Jahrhundert nur schemenhaft fassbar. Man darf davon ausgehen, dass Serbien wie Bulgarien sowohl von römischen wie byzantinischen Missionaren dem Christentum über einen längeren Zeitraum erschlossen wurden, wobei einem Taufakt, wie er von Michaels III. Nachfolger Basíleios I. gegen Ende des 9. Jahrhunderts vorgenommen wurde, primär symbolische Bedeutung zukam. Die byzantinische Missionsstrategie erfasste 988/89 auch das von skandinavischen Warägern (Kiewer Rus’) begründete ostslawische Reich von Kiew.

      Die Bedeutung der sakralen Sprache

      Mit dem Altkirchenslawischen trat eine vierte heilige Sprache und Schrift neben das Griechische, Lateinische und Hebräische. Sprache und Schrift sind im geistlichen Verständnis nicht nur Träger von Information. Sie haben als Form und Zeichen heiligen Charakter, und dies ganz besonders in der Liturgie und der Heiligen Schrift. Nur wenn man sich diese sakrale Dimension vor Augen hält, begreift man den umwälzenden Charakter dieser Neuerung. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa kam es in Griechenland wegen einer Bibelübersetzung ins Neugriechische zu schweren Unruhen. Gegen [<<105] die Schaffung einer neuen Liturgiesprache war es auch in Byzanz zu Widerstand gekommen. Und die Vertreter der jungen sakralen Sprache fühlten sich genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen.

      Chrabar, Über die Buchstaben

      In diesen Zusammenhang gehört die kirchenslawische Schrift O pismeneh /„Über die Buchstaben“ des Mönchs Chrabar, die wohl im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden ist. Über den Verfasser ist wenig bekannt. Sein sprechender Name (etwa: „der Tapfere, Mutige“) ließ Vermutungen aufkommen, es handle sich um ein Pseudonym, hinter dem man u. a. Konstantin/Kyrill selbst vermutete. Entstanden ist die Schrift wohl im Umfeld einer bulgarischen Reichssynode unter dem jungen Herrscher Simeon I. , der eben die „heidnische“ Reaktion niedergeworfen hatte (893).

      Der Verfasser war jedenfalls hoch gebildet und verfügte über gute Kenntnisse der Kirchenväter-Texte – dass im Paradies syrisch gesprochen worden sei, geht etwa auf Theodoret von Kyrrhos († 460) zurück. Die älteste erhaltene Handschrift von Chrabars Text entstand erst knapp viereinhalb Jahrhunderte nach Abfassung der Schrift im Jahre 1348. Sie wurde von dem bulgarischen Zaren Ivan Alexandăr († 1371) in Auftrag gegeben. Dies deutet auf den hohen symbolischen Wert des Bekenntnisses zur kirchenslawischen Tradition in einer Zeit hin, als der byzantinische Einfluss auf die bulgarische höfische Kultur besonders stark wirkte. „Über die Buchstaben“ ist in rund 80 Handschriften überliefert und wurde in der Frühen Neuzeit in der slawischen Welt im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen zwischen der orthodoxen und der unierten Kirche