Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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oder Passau ließen sich bestehende Rechte bestätigen. Damals begann man in bayerischen Bistümern und Klöstern auch eine neue Form von Urkundensammlungen, Traditionscodices, zu führen, die der besseren Verwaltung und damit größeren Rechtssicherheit dienten (→ Kap. 3.2.1).

      Salzburgs Argumente

      Ähnlich gestiegene Überlieferungschancen bewirkte die Eskalation der Missionskonkurrenz bei den Slawen vor dem skizzierten politischen Hintergrund: Die Mährerfürsten Rastislav und sein Neffe Zwentibald I. wandten sich nämlich, nachdem sie es vorher erfolglos in Rom versucht hatten, im Jahr 862 in einem Brief an den byzantinischen Kaiser Michael III. mit der Bitte um einen Bischof und Lehrer, „der uns in unserer Sprache den wahren christlichen Glauben erklären könne“. Die zahlreichen italienischen, griechischen und bayerischen [<<95] Lehrer, die bei ihnen unterschiedliche Lehren verträten, verwirrten das Volk, heißt es in den Lebensbeschreibungen von Konstantin/Kyrill und Method, die daraufhin zunächst in Mähren missionierten. Ab 869 war Methodios auch als päpstlicher Legat und Erzbischof in Pannonien tätig (→ Kap. 2.3.2). Während die slawischen Fürsten darin die Möglichkeit einer pannonischen Kirche mit der alten Metropole Sirmium unter Einschluss von Mähren und unabhängig von Salzburg und der bayerischen Kirche erkannten, argumentierte Salzburg im Sinn einer ununterbrochenen Missionskontinuität von Bayern über Karantanien nach Pannonien.

      Deshalb ist in der Fassung B der Rupert-Vita, die als erstes Kapitel die Conversio Bagoariorum et Carantanorum eröffnet, von einer Bekehrung der bayerischen Herzöge, Großen und des Volks durch den Hl. Rupert die Rede, wohingegen die Bayern in der älteren Fassung A von 791/3 bei der Ankunft des Heiligen bereits Christen waren. Der zweite (cc. 3–10) und dritte Teil (cc. 11–14) widmen sich der Slawenmission, wobei die Ansprüche auf Pannonien dadurch legitimiert werden, dass dieser Teil des slawischen Gebiets gleichsam als erweitertes Karantanien dargestellt wird. Die Denkschrift setzt also dort an, wo die Belege Salzburgs für sein „altes Recht“ am schwächsten sind. Während für die Salzburger Zuständigkeit in Karantanien mehrere päpstliche Bestätigungen vorlagen, besaß weder das Erzbistum selbst noch eines der Salzburger Bistümer entsprechende Rechte für Pannonien.

      Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien, hg., übers., komm. und um die Epistola Theotmari wie um gesammelte Schriften zum Thema ergänzt von Herwig Wolfram (Ljubljana/Klagenfurt 32013).

      Seit der Zeit nämlich, da aufgrund der Vergabe und auf Befehl des Herrn Kaisers Karl das (christliche) Volk des östlichen Pannoniens von den Salzburger Bischöfen regiert zu werden begann, bis zur Gegenwart sind es 75 Jahre, daß kein Bischof, der woandersher kam, in jenem Gebiet die kirchliche Gewalt besaß außer die Salzburger Leiter. Auch kein Priester, der von woandersher kam, wagte dort länger als drei Monate sein Amt auszuüben, bevor er dem Bischof nicht sein Entlaßschreiben vorgelegt hatte. Das wurde dort nämlich beachtet, bis die neue Lehre des Philosophen Methodius aufkam. (c. 14) [<<96]

      Mit diesen Worten schließt die Denkschrift, die vermutlich an Ludwig den Deutschen anlässlich einer Synode in Regensburg (870) gerichtet war, bei der sich Methodios gegenüber dem ostfränkischen König und den bayerischen Bischöfen verantworten musste. Ihr Autor, ein Salzburger Kleriker, vielleicht sogar Erzbischof Adalwin († 873) selbst, konnte auf eine Fülle von Quellen zurückgreifen, um seine recht sachlich wirkende Argumentation zu fundieren. Zwar verwendete er nach neuestem Forschungsstand die Salzburger Urkundenverzeichnisse (Notitia Arnonis und Breves Notitiae) nicht, dafür aber unter anderem Salzburger Urkunden, verschiedene Annalenwerke, den Liber confraternitatum von 784, sowie eine Bischofsliste von 854/59 aus den Carmina Salisburgensia, der berühmten Salzburger Gedichtesammlung.

      Wessen Wahrheit?

      Ein guter Teil dieser Überlieferung stand dem Autor der Conversio nicht zuletzt deshalb zur Verfügung, weil die bayerische Geschichte und jene der Verbreitung des Christentums eben nicht bruchlos verlaufen waren, sondern in zahlreichen geistlichen, politischen und auch gewaltsamen Auseinandersetzungen unterschiedlicher Akteure und Institutionen. Solche Konflikte und die dadurch entstehende Rechtsunsicherheit erhöhten Überlieferungschancen gerade für Material, das in den letztlich langlebigen kirchlichen Institutionen entstanden ist und dort zu Belegzwecken besonders sorgfältig aufbewahrt wurde. Ein Teil des Quellenwerts der Conversio erwächst daher aus der Fülle des Materials, auf das ihr Autor zurückgreifen konnte. Gleichzeitig gibt es zu vielem, was die Denkschrift behauptet, aufgrund der skizzierten Umstände unüblich viele Parallelüberlieferungen. Das bedeutet, dass man dem Autor bei der Konstruktion seines Arguments gleichsam auf die Finger sehen und in einer Reihe von Fällen auch nachweisen kann, was der Text „gegen besseres Wissen“ verschweigt. Herwig Wolfram hat in mehreren detaillierten Analysen (zuletzt 2013) gezeigt, wo und wie die Salzburger Denkschrift maßgebliche Informationen zur bayerischen Missionsgeschichte bei den Slawen weglässt, um eine ganz bestimmte, den Salzburger Intentionen entsprechende Version dieser Geschichte zu erzählen.

      Bewegliche Texte

      Wie wenig sich diese einzigartige Quelle daher in abgegrenzten Gattungen kategorisieren lässt, macht ihre Bezeichnung als genus mixtum durch die neuere Forschung deutlich, als ein „gemischtes“, ein uneindeutiges Genre. Die Notwendigkeit solcher offenen Kategorien [<<97] wird – ähnlich wie bei der Überlieferungsgeschichte der Vita S. Severini – durch die Geschichte der Rezeption der Conversio noch unterstrichen. Die insgesamt zehn erhaltenen Handschriften sind fast ausschließlich um 1200 entstanden oder überarbeitet worden; fast alle sind in Sammelhandschriften in Klöstern der Region überliefert, die eine enge Verbindung zu Salzburg aufwiesen. Auch hier bedingten aktuelle Interessen an der Vergangenheit – von der erneuten Notwendigkeit der Besitzsicherung angesichts der Rezeption des gelehrten Rechts im Alpenraum über die Auffindung des Grabes Bischof Virgils (1183) und seine Kanonisation (1233) bis zum Beginn des Salzburger Dombaus durch Erzbischof Konrad III. († 1200) – die ré-écriture des Textes und ließen ihn so lebendig bleiben.

      2.3.2 Integration durch Schriftlichkeit

      Christianisierung der Slawen

      Die Christianisierung der slawischen Zuwanderer, allen voran des mährischen Reichs im pannonischen Becken und der aus Proto-Bulgaren, Slawen und altbalkanischer Bevölkerung hervorgegangenen Bulgaren, gehört zu den Vorgängen mit den weitestreichenden Konsequenzen in der frühmittelalterlichen Geschichte Europas überhaupt. Erstmals trat mit den Bulgaren eines der militärisch mächtigen Steppenvölker zum Glauben der alten römisch geprägten Welt über und gliederte sich damit in das alte mittelmeerische Machtsystem ein. Obwohl die Bulgaren heute der orthodoxen Welt zugehören, ist ihr Übertritt zum Christentum, ähnlich wie derjenige der Serben, keinesfalls von Anfang an eine eindeutige Bewegung hin zum Christentum byzantinischer Prägung gewesen. Vielmehr schwankten Bulgaren und Serben bis in das 13. Jahrhundert hinein zwischen den beiden kirchlichen Zentren Rom und Konstantinopel, und ihre klare Orientierung nach Osten erfolgte erst im Spätmittelalter.

      Die Christianisierung der Bulgaren ist nur vor dem Hintergrund der seit längerem schwelenden Konflikte zwischen dem Papsttum und dem Patriarchat von Konstantinopel zu verstehen. Sie hatten im Jahr 732 einen Höhepunkt erreicht, als der byzantinische Kaiser die Kirchenprovinz Illyricum, also weite Teile des heutigen Balkans (die Diözesen Macedonia und Dacia), der Gerichtsbarkeit des Papstes entzog und dem von ihm kontrollierten Patriarchen von Konstantinopel [<<98] unterstellte. Rom erkannte diesen Schritt nicht an. Als die bulgarische Elite zum Christentum übertrat, tat sie diesen Schritt teilweise auf einem Territorium, dessen Jurisdiktion zwischen Rom und Konstantinopel kirchenrechtlich umstritten und dessen politische Ausrichtung zwischen Byzanz und dem ostfränkischen Reich kontrovers war.

      Konstantin/Kyrill und Method in Mähren

      Die Missionierung der Bulgaren stellte also auch ein Ringen um Einfluss auf dem Balkan dar, wo sich Ost- und Westreich, Ost- und Westkirche, letztere zudem aufgeteilt in die konkurrierenden Zentren Rom, Aquileia, Salzburg und Passau, gegenüberstanden. Die Entfremdung der Kirchen