Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Simon Bundi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Bundi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199143
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verwende ich die Quellentermini Neubürger, Bürgerrat, Bürgerversammlung etc., da bei diesen keine Verwechslungsgefahr mit der kulturellen Kategorie des Bürgers als Mitglied des Bürgertums besteht. Diese Bedeutung bezeichne ich stets mit dem Adjektiv «bürgerlich» oder mit dem Nomen «Bürgerlichkeit», während der rechtlichen Kategorie des Gemeindebürgers das Adjektiv «ortsbürgerlich» entspricht. In den Quellen erscheint für beide Bedeutungen immer der Terminus «bürgerlich».

      2. Gibt es für die öffentlich-rechtliche Personalkörperschaft der Bürgergemeinde in der Schweiz eine Fülle von (mitunter irreführenden) Bezeichnungen, so wird diese Vielfalt im dreisprachigen Kanton Graubünden mit seinen verschiedenen rätoromanischen Varietäten zusätzlich vermehrt: «cumün da vaschins» (Engadin, mit Varianten), «vischnaunca burgheisa» (Surselva und angrenzende Regionen, mit Varianten) oder «comune patriziale» (Bergell, Misox, Puschlav). In dieser Untersuchung wird immer von Bürgergemeinden die Rede sein, wie dies auch in den Quellen der deutschsprachigen Regionen Graubündens der Fall ist. Für ihren Gegenpart, die Einwohner- oder Gesamtgemeinde, findet man in den Bündner Quellen fast immer den dazu synonymen Begriff der Politischen Gemeinde. Dieser Terminus, der dem heutigen Sprachgebrauch entspricht, soll in den eigenen Formulierungen auch hier verwendet werden. Wenn alternativ in vereinzelten Fällen von der Gesamtgemeinde die Rede ist, meint dieser Begriff dasselbe.

      3. Für die Bezeichnung des Eigentums der Bürgergemeinden am Gemeindevermögen folge ich der Unterteilung des geltenden Gemeindegesetzes in a) Armengut, b) Bürgerlöser oder nach 1874 erworbene Grundstücke und c) Nutzungsvermögen.70 In den allermeisten Fällen war es das Eigentum am Nutzungsvermögen, bestehend aus Weiden, Alpen und Wäldern, das bis zum Erlass des Gemeindegesetzes von 1974 im Gemeindedualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde umstritten war.

      4. Schliesslich eine Bemerkung zu den Termini «souverän» und «autonom», die in den Quellen bisweilen vermischt werden. Souveränität zerfällt in die beiden Aspekte «Souveränität gegen aussen» und «Souveränität gegen innen».71 Als einziger wäre hier letzterer von Belang, der sich in der Rechtssetzung, der Verwaltungsausübung und der Justiz manifestiert. Der Einfachheit halber (und weil der Begriff der Gemeindeautonomie im 20. Jahrhundert den der Gemeindesouveränität offenbar verdrängt) ziehe ich den Autonomiebegriff vor.

      1.3 Zugänge zur Kultur der Politik

      Die bisher skizzierten Konturen einer Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden verlaufen entlang der Beschreibung von Selbstbildern, Werten, Haltungen, Vorstellungen, Wahrheiten und dergleichen mehr. Wenn danach gefragt werden soll, wie diese verschiedenen Wirklichkeitsentwürfe entstanden sind – wie und warum also, mit anderen Worten, diese Abgrenzungsgeschichte innerhalb der Bündner Gemeinden möglich wurde –, impliziert dies eine grundlegende Einsicht, wie sie von allen Strömungen der Kulturgeschichte geteilt wird: Die soziale Wirklichkeit ist etwas, das immer historisch hervorgebracht wird, d.h. nicht a priori vorgegeben oder «schon da» ist.72 Das Schlüsselkonzept für diesen Konstruktionsprozess sämtlicher Bereiche des historischen Lebens ist ein Kulturbegriff, wie er seit den 1980er-Jahren in die Geschichtswissenschaft eingedrungen ist.73 Kultur ist in diesem Verständnis

      fundamental, so umfassend wie die Sprache, die auch die erste Form von Kultur ist und das Modell für Kultur als ein System von Zeichen, ein symbolisches System. Im Netz dieser Zeichen richten wir unsere Welt ein, versehen wir mit Bedeutung, was um uns ist und setzen wir auch uns selbst in Beziehung mit allem anderen – ja, versehen uns selbst mit Bedeutung.74

      Das kritische Nachdenken über den Menschen als «symbolerzeugendes und symboldeutendes Wesen»75 findet sich bereits bei einem der berühmtesten Gäste Graubündens der Belle Epoque, bei Friedrich Nietzsche. In Sils i.E./Segl führte er nach 1881 das Nachdenken über die Entstehung von Werten weiter, das er bereits 1872 in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne begonnen hatte.76 Darin hatte er zum ersten Mal die Frage nach der Genealogie des bürgerlichen «Begriffshimmels» gestellt, für Nietzsche «jenes ungeheure Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet».77 Er forderte eine Dekonstruktion dieses von Menschen geschaffenen «Wertehimmels».78 Dazu müsse man darstellen, «wie man auf Erden Ideale fabrizirt».79

      Von diesem Wirklichkeitsverständnis ausgehend, hat eine Kulturgeschichte der Politik «hergebrachtes politisches Handeln und politische Institutionen vor Augen und möchte diese mit kulturhistorischen Fragen in neuem Licht erscheinen lassen».80 Deshalb fragt sie «nach der Herstellung und den Funktionsweisen politischen Handelns und politischer Strukturen».81 Eine Kulturgeschichte der Politik darf sich dabei «nicht als die Untersuchung eines Gegenstandsbereichs verstehen, sondern als eine spezifische Perspektive auf jede Art von Politik».82 Schliesslich ist Politik, um mit Roger Sabloniers Untersuchung des spätmittelalterlichen Rätiens zu sprechen, «nicht nur eine Sache von Organisationen, Institutionen, Recht und Gewalt, sondern ebenso sehr von sozialen Beziehungen, Vorstellungen, Kommunkationsweisen und Handeln».83

      Mit dem Anspruch einer Kulturgeschichte der Politik taucht die Frage nach politischer Kultur oder politischen Kulturen auf. Zwei Aspekte dieses Begriffs sollen in dieser Untersuchung in den Blick rücken: Erstens meint politische Kultur bestimmte politische Deutungsmuster und ihre sozialmoralischen Milieus.84 In diesem Sinne sind es zwei politische Kulturen, die in einer interregionalen Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich werden lassen: die liberal-freisinnige und die katholisch-konservative. Trotz unterschiedlicher sozialmoralischer Milieus und politischer Handlungsformen wird zu zeigen sein, dass diese politischen Kulturen mindestens einen zentralen Code geteilt haben.

      Zweitens ist zu klären, was alles zu diesen politischen Kulturen gehört, insofern «alles irgendwie politische Dimensionen hat».85 Mit einem Kulturbegriff, der potenziell immer politisch affiziert ist, wird gewiss die Schwäche eines umfassenden Begriffs von «politischer Kultur» deutlich, doch können zwei Relativierungen angebracht werden: Zum einen ist ein solch umfassender Begriff von politischer Kultur einer Beschränkung auf das «Kulturelle an der Politik», das heisst einer Beschränkung auf Demonstrationen, historische Festspiele und Denkmäler, vorzuziehen.86 Zum anderen muss auch eine Analyse von Vereinsstrukturen und dergleichen konkrete politische Dimensionen aufzeigen können. Nimmt man einen soziologischen Begriff von Politik «als eines kommunikativen Modus, dessen Codes auf die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen gerichtet sind» zum Ausgangspunkt, muss zumindest «die Integrationsfunktion, die jeder Politik auf die Dauer innewohnen muss», Gegenstand einer solchen Analyse sein.87 Eine Kulturgeschichte der Politik soll demnach «artifizielle Differenzierungen welcher Art auch immer, die Politisches von Nichtpolitischem zu trennen versuchen, hinter sich […] lassen»88 und sich in diesem potenziell weiten Feld «der Herstellung von Bedeutung, der Produktion von Sinn, der Prägung von Identitäten sowie der Konstruktion von Wirklichkeit durch Menschen der Vergangenheit»89 annehmen.

      Bereits wurde erwähnt, dass die erste Form von Kultur die Sprache ist. Eine Möglichkeit, die Rolle der Sprache, oder allgemeiner, semiotischer Zeichensysteme für die Kultur einer Gesellschaft zu erfassen, geht vom Diskursbegriff des französischen Kulturwissenschaftlers Michel Foucault aus:90 Es sind Diskurse, die alle möglichen (abstrakten) «Gegenstände» oder Sachverhalte wie Bürgergemeinden, Gemeindeautonomie oder Wertungen wie «assimiliert» oder «bodenständig» (um nur einige zu nennen) erst hervorbringen und strukturieren.91 Diskurse sind «regelmässige, strukturierte und sich in einem systematischen Zusammenhang bewegende Praktiken und Redeweisen, die einen gewissen Grad der Institutionalisierung erreicht haben».92 Der Fokus liegt somit auf den Praktiken, die ihre Objekte «machen».93 Dies kann eine rechtswissenschaftliche Dissertation, eine Abstimmung während einer Bürgergemeindeversammlung oder der Ausschluss eines Niedergelassenen von einem wichtigen Amt in einem Verein sein. Eine Institution wie die Bürgergemeinde beispielsweise ist nichts anderes als das Korrelat der mit ihr verbundenen Praktiken: Wenn sich die Praktiken verändern, verändert sich der Inhalt beziehungsweise die Funktion der Bürgergemeinden.94