Alois Steinhauser etablierte sich in seiner Dissertation als Teil dieser überkonfessionellen, rückwärtsgewandten politischen Kultur, indem er als erster (Rechts-)Historiker überhaupt der Gemeindegeschichte das Primat für das Verständnis der Geschichte und Gegenwart Graubündens zuschrieb. Er verortete die historische Entwicklung Graubündens in der Gemeinde. Eine solche Betrachtung sei notwendig, wenn man «unser spezifisch-bündnerisches Wesen, besonders sein historisches Werden, verstehen will».47 Im Gegensatz «zur allgemeinen Entwicklung» sei es nämlich in Graubünden zum «Sieg der Gemeinderechte» gekommen. Seit dem 16. Jahrhundert hätten die Gemeinden ihren Charakter behalten, «und gegenwärtig noch hält das Volk mit der ihm eigenen historischen Zähigkeit an der Gemeinde-Autonomie fest».48 Mühelos übertrug er das Bewusstsein für die im vormodernen Freistaat weitgehende Autonomie der (seit 1851 nicht mehr bestehenden) Gerichtsgemeinden auf die moderne Gemeinde, indem er kurzerhand beide mit «Gemeinde» bezeichnete. Steinhauser lieferte die wissenschaftliche Begründung für Vorstellungen, wie sie seit Jahrzehnten nicht nur in konservativen Kreisen etabliert waren.
1897 besprach das konservative Bündner Tagblatt in mehreren Ausgaben Steinhausers Dissertation. Der Rezensent wählte Steinhausers Werk aus, «weil es uns freut, wenn angehende Staatsmänner erkennen, dass die Gemeinde die Grundlage, wir möchten sagen die Ursache alt-rhätischer Freiheit ist».49 Mit dieser Artikelserie wird darüber hinaus gut sichtbar, wie dieses Wissen zwischen populären und wissenschaftlichen Formaten zirkulierte: Vorstellungen über den historischen und zeitgenössischen Wert der Gemeindeautonomie verfestigten sich in Graubünden zunächst in populären Diskursen, um von der Forschung rezipiert und sodann wieder popularisiert zu werden. So übernahm der Rezensent des Bündner Tagblatts Steinhausers Einschätzung zum Teil wörtlich, wenn er festhielt: «Seit dem 16. Jahrhundert behielten sie [die Gemeinden, S. B.] ihren Charakter bis in die neuere Zeit, und gegenwärtig hält das Volk noch mit der ihm eigenen historischen Zähigkeit an der Gemeinde-Autonomie fest.»50 Darüber hinaus wurde im Herbst 1897 in Chur das Theaterstück Rink von Baldenstein aufgeführt, das «den Sieg der freien Bauerngemeinden in den Alpen» einem breiteren Publikum vorführte.51
Das Interesse der Juristen für das Thema nahm in den nächsten Jahren nicht ab. 1901 verfasste Alois Steinhauser selbst in der rätoromanischen Fachzeitschrift Annalas da la Societàd reto-romantscha einen Aufsatz zum Gemeindevermögen, dem am Schluss unter dem Stichwort «politische Bedeutung» mit Blick auf die Gemeinden ein gewisses Pathos nicht fehlt: «En nossas vischnauncas anflein nus il spert da libertad che ha batteu ils regenters feudals, che ha deliberau ilpievelgrischun del domini feudal ton mondan sco eclesiastic.»52 1902 erschienen mit Anton Meulis Dissertation Die Entstehung der autonomen Gemeinden im Oberengadin und Achill Gengels Dissertation Die Selbstverwaltungskörper (Kreise und Gemeinden) des Kantons Graubünden gleich zwei Studien zum Thema. Als Freisinnige beurteilten sie Graubünden als das «klassische Land der Gemeindefreiheit» (Meuli) insgesamt differenziert-nüchterner.53 Dieselbe Nüchternheit findet man im Übrigen schon 1890 in der Dissertation des freisinnigen Rudolf Anton Ganzoni aus Celerina/Schlarigna, der schon vor Steinhauser von der «souveräne[n] Gemeinde» spricht, ohne dabei auch nur im Geringsten ein besonderes Bündner Wesen langfristig am Werk zu sehen.54 Ungeachtet dieser Abstufungen zeigt diese kurze Rundschau über die frühen (rechts-)historischen Bündner Werke, dass es politisch konservativ gesinnte Autoren wie Alois Steinhauser waren, die zwei Jahre nach Sprechers Initiative der unkritischen Verklärung der Gemeindeautonomie den Status der wissenschaftlichen Wahrheit gaben. Dieses Wissen kristallisierte sich zwar langfristig in der Sphäre akademischer Wissenschaft, hatte dort aber keineswegs seinen Ausgangspunkt und breitete sich umso stärker in der Sphäre populärerer Formate aus – wie auch noch in den nächsten Kapiteln zu zeigen sein wird.
Bezeichnenderweise war es Grossrat Caspar Decurtins, der in der Junisession 1895 versuchte, die erste «Bürgerinitiative» zu verteidigen. Decurtins’ Bemühungen im Grossen Rat waren vergeblich: Regierungsrat Franz Peterelli gab zu bedenken, dass nicht im Sinne der Initianten «faktisch und förmlich ein Dualismus geschaffen, sondern auf Stärkung der Einheit abgestellt werden»55 solle. Darauf, dass diese gelegentlichen Beschwörungen der Gemeindeeinheit seitens der kantonalen Behörden im Widerspruch zu deren Rekurspraxis standen – die de facto zwei Rekursparteien anerkannte – habe ich hingewiesen. In der Grossratsdebatte vom Juni 1895 spielten solche behördlichen Widersprüche aber keine Rolle. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Grosse Rat die Eingabe wegen formeller Mängel – eine Verfassungs- war mit einer Ge – setzesinitiative verkoppelt worden – ohnehin bereits abgelehnt.56
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