Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Simon Bundi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Bundi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199143
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das Recht, eigene Geistliche zu wählen oder zu entlassen. Damit schuf dieses neue Landesrecht eine Voraussetzung für die Reformation.18 Diese setzte sich bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts in rund 60 Prozent der Pfarreien durch. Katholisch blieben vor allem die obere Surselva, das Surses und das untere Albulatal sowie die Südtäler Misox und Calanca. Gemischtkonfessionell blieben das Puschlav, die mittlere Surselva und Teile des Bündner Rheintals.19

      Es ist meines Erachtens nicht unwichtig zu sehen, dass das Kloster Disentis in der Surselva von den Verfügungen des zweiten Artikelbriefs gegen kirchliche Herrschaftsträger nur teilweise betroffen wurde.20 Insofern waren die Artikel tatsächlich ein Projekt von reformierten Aufsteigern in den Gerichtsgemeinden und von Churer Stadtbürgern, das in erster Linie gegen die umfangreiche Landesherrschaft des Bischofs gerichtet war.21 In der Gerichtsgemeinde Disentis/Cadi musste der Ammann noch bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Kriminalgerichtsbarkeit vom Abt brieflich erbitten. Dieser Vorgang, wenn er auch nicht mehr öffentlich war, sagt einiges über den politischen Status des Abts aus – zumal die Krimimalgerichtsbarkeit für die Vorstellung staatlicher Macht essenziell war.22 Nicht anders ist die Funktion des klösterlichen Hofes in Trun als Versammlungsort des Grauen Bundes zu bewerten, wo der Abt als Zeremonienmeister und Gastgeber auftrat.23 In der Gerichtsgemeinde Disentis und der Gerichtsgemeinde Rueun behielt der Abt das Vorschlagsrecht bei der Wahl des Ammanns bis zu Beginn des modernen Kantons Graubünden, in Disentis beanspruchte er bis 1812 zudem an der Disentiser Landsgemeinde 30 Stimmen für sich.24 Eine derartige Verflechtung von Kirche und staatlichen Institutionen fällt auf, wenn man die Landesherrschaft des Bischofs (Chur, Vier Dörfer, Domleschg, Surses, Albulatal, Bergell, Oberengadin, mit Einschränkungen das Unterengadin) damit vergleicht. Diese wurde in wenigen Jahrzehnten nach 15 24, mit Ausnahme der Val Müstair, «neutralisiert»,25 wobei eine Mehrheit dieser Gerichtsgemeinden bis um 1580 zum neuen Glauben übertrat.26

      Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass trotz der ausgeprägten Heterogenität ein politisches Gebilde in Graubünden entstanden war, «that represented the most extreme example of communal and federal state-building to be found in Europe at the time».27 Von einigen rechtlichen Machtansprüchen überkommener Feudalherren wie dem Disentiser Abt abgesehen, war es einer neuen kommunalen Führungsschicht gelungen, neue politische Rahmenbedingungen zu konsolidieren.28 Bis Mitte des 17. Jahrhunderts besassen dann fast alle Gerichtsgemeinden sämtliche staatlichen Kompetenzen mit Ausnahme der Aussenpolitik.

      Die Darstellung wird nun darauf zugespitzt, dass dieser im 16. Jahrhundert entstandene Kommunalismus auf die Nachbarschaften übergriff und dort die Exklusion der Hintersassen befördert hat. Anhand von Beispielen zur Stellung der Hintersassen werden die entstandenen «horizontalen» Ungleichheiten gut fassbar. In einem weiteren Schritt wird es darum gehen, die moderne Gemeindeautonomie und den Ausschluss der Niedergelassenen und Ausländer als altrepublikanische Relikte des frühneuzeitlichen Kommunalismus gegeneinander abzugrenzen.

      2.2 Die Nachbarschaften und der Ausschluss der Hintersassen

      Bisher war lediglich davon die Rede, dass die Gerichtsgemeinden ihre Amtsleute selbst wählen oder zumindest vorschlagen konnten. Damit ist nur gesagt, dass die Macht prinzipiell «in der Gemeinde gründete».29 Es stellt sich nun die Frage, wer de jure und de facto an diesem föderalistisch-kommunalen Modell mit Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften partizipierte.

      Berühmt geworden ist Peter Livers teleologische Formel Vom Feudalismus zur Demokratie,30 die um 1930 in der Beseitigung des Feudaladels durch die «Volksherrschaft» das «demokratische Gemeinschaftsbewusstsein»31 am Werk sah.32 Livers Deklamation war ein später Höhepunkt einer bereits mit Heinrich Zschokke einsetzenden nationalliberalen Geschichtsschreibung, die sich ihrerseits aus der humanistischen These der Freiheitsentwicklung der Rätier speiste.33 Diese Art von Historiografie übersah die «korporativen und elitären Implikationen der Bündner Demokratie)» grosszügig.34 Während das elitäre Moment frühneuzeitlicher Politik in Graubünden für eine Geschichte der modernen Bündner Gemeinden weniger wichtig ist,35 soll im Folgenden der korporative Charakter des Bündner «Gemeindestaats» genauer ausgeleuchtet werden.

      Für eine Geschichte der modernen Bündner Bürgergemeinden ist der Umstand von zentraler Bedeutung, dass in den gemeindlichen Verbänden ab dem Spätmittelalter neben den vertikalen vor allem horizontale Ungleichheiten ausgebildet wurden.36 So wie in anderen europäischen Ländern waren unter anderem Frauen und Fremde von der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen. Im Freistaat der Drei Bünde bildeten sich auf mehreren Stufen Partizipationsberechtigungen aus, eine Art vormodernes «Bürgerrecht»37 der Nachbarschaften, der Gerichtsgemeinden, der Einzelbünde und des Gesamtstaats.38 Zunächst lohnt es sich, dafür das bisher nur implizit beschriebene Konzept des Kommunalismus zu schärfen, weil es die Voraussetzung für eine politische Organisationsform gebildet hat, die als altrepublikanisch oder klassisch-republikanisch bezeichnet wird und gerade auf der untersten Stufe die horizontalen Ausschlussmechanismen mitbefördert hat.

      Peter Blickle hat sein am oberdeutschen Raum des Spätmittelalters entwickeltes Konzept des Kommunalismus auch am vormodernen Graubünden festgemacht, da sich in diesem Fall «belegen lässt, dass Stadt- und Landgemeinde Wesentliches dazu beigetragen haben, Formen des Republikanismus zu entfalten».39 Kommunalismus als Vorstufe des vormodernen Republikanismus fasst Blickle als weitgehenden Autonomiestatus von Städten und Dörfern, die Gesetzgebung, Verwaltung und den Vollzug von Strafen gemeinschaftlich regelten.40 Diese Freiheitsrechte waren korporativ definiert: «Berechtigung und Verpflichtung erwachsen aus der selbstverantworteten Arbeit als Bauer und Handwerker im genossenschaftlichen Verband.»41 Die Gemeinde war demnach eine Form der Vergesellschaftung von Bauern und Handwerkern. Dieses gemeindliche Zusammenleben stiftete Werte und Normen, darunter rechtliche Gleichberechtigung, Frieden und Gemeinwohl.42 In der Praxis rief das kommunale Autonomiestreben permanente Konflikte mit dem feudalen Herrschaftsprinzip hervor, die im oberdeutschen Raum im Bauernkrieg von 1524/25 eskalierten.43 Die Entwicklung im Gebiet des heutigen Kantons Graubünden verlief bekanntlich bedeutend unblutiger. Blickle hat für den Freistaat der Drei Bünde die Gerichtsgemeinden und vor allem die Nachbarschaften unter das Konzept des Kommunalismus gefasst. Um sie soll es hier in erster Linie gehen, da aus ihnen, nicht aus den meist viel grösseren Gerichtsgemeinden, die modernen Bündner Gemeinden entstanden.

      Für die Zugehörigkeit zur politisch-sozialen Einheit der Nachbarschaft bestanden zumindest einige Minimalvoraussetzungen, darunter Waffenfähigkeit und eine wirtschaftlich wie politisch unabhängige Existenz.44 Für den Freistaat der Drei Bünde heisst das: «Bürger im eigentlichen Sinn waren die Haushaltsvorstände männlichen Geschlechts, welche sich in vollem Besitz ihrer Fähigkeiten und Güter befanden.»45 In der Tat dürften die Fälle zahlreich gewesen sein, in denen man den Ausschluss der Hintersassen mit wirtschaftlicher Unselbstständigkeit erklären könnte, da sie ihr Auskommen als Taglöhner, Hirten, Krämer und Kleinstbauern suchten. Für das Unterengadin hält Mathieu fest: «Viele Hintersässen besassen vermutlich so gut wie gar nichts.»46 Auch in Chur bildeten die Taglöhner, meist Rebknechte, die grösste Gruppe der Hintersassen.47 Maissen argumentiert ähnlich, indem er die militärische Diensttauglichkeit als Kriterium für politische Partizipation damit erklärt, dass Graubünden als armes Land seinen bescheidenen Reichtum dem Solddienst verdankte.48 Im Laufe der Frühen Neuzeit lässt sich beobachten, wie mit der kommunalistischen Entwicklung in den Nachbarschaften auch die Abgrenzung gegenüber den Hintersassen an Bedeutung gewann.

      Die Nachbarschaften befassten sich in der Frühen Neuzeit nicht mehr nur mit der Nutzung von Weiden, Wald, Wasser und Alpen oder dem Gemeinwerk.49 Ab dem 16. Jahrhundert eigneten sich diese lokalen Verbände mancherorts die lokale Zivilgerichtsbarkeit an, dies namentlich im Engadin, im oberen Albulatal, in der Val Müstair und in Brusio.50 In italienischsprachigen Südtälern wie dem Bergell wurde zudem das Wahlverfahren für die Gerichtsgemeinden in die Nachbarschaften verlagert. Eine eigentliche Landsgemeinde gab es in diesen Regionen nicht mehr, die verschiedenen Nachbarschaften schickten