Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Simon Bundi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Bundi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199143
Скачать книгу
Und doch wird er behandelt als existiere er in Form einer Wesenheit».95

      Ich möchte diese grundlegenden Überlegungen abschliessend in fünf Punkten präzisieren.

      1. Diskurse haben einen materiellen wie produktiven Charakter.96 Deshalb umfasst eine «diskursive Praxis» ein ganzes Ensemble mit Institutionen, Regelungen, autoritativen Sprechern usw.97 Zum Diskurs gehören die damit «verknüpften Praktiken», die genauso für die Konstituierung ihres Gegenstandes relevant sind.98

      2. Wenn man Bürgergemeinden oder die Vorstellung von «Bodenständigkeit» als Ergebnis von Diskursen fasst, geht es «nicht um die abstruse Frage, ob es noch etwas anderes als Texte gebe, sondern darum, wie die nichtsprachlichen Dinge ihre Bedeutung erlangen».99 Bürgergemeinden sind allein schon deshalb real, weil sie durch ihre Beschlüsse sehr reale Wirkungen zeitigen können. Eine Kulturgeschichte der Politik schliesst zudem wirtschaftliche oder soziale Gegebenheiten als die «harten» Bedingungen menschlicher Existenz durchaus mit ein. Auch hier lautet die Frage nicht, ob sie existieren. Entscheidend ist, mit welcher Bedeutung beispielsweise wirtschaftliche Not oder ein Erdbeben ausgestattet werden und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.100

      3. Wenn die Gegenstände, die der Diskurs bildet, nur «in einer Praktik und durch eine Praktik» existieren, führt das zur Frage der Macht. Bevor sich Tatsachen – zumal prekäre wie der Bündner Gemeindedualismus – stabilisieren können, durchlaufen sie meist einen langen, konfliktreichen und nichtlinearen Weg.101 Politisches Handeln ist immer kommunikatives Handeln, das nicht einfach als eindimensionaler Akt gefasst werden kann, bei dem «von oben nach unten dekretiert, regiert, entschieden wird».102 Eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden soll zeigen, wie Macht nichts anderes bedeutet als «Kräfteverhältnisse, die durch ihre Ungleichheit unablässig Machtzustände erzeugen, die immer lokal und instabil sind».103 Wodurch also das politische Kollektiv (die Bürgergemeinde, der Kanton, die Politische Gemeinde, der Bundesstaat usw.) entsteht, auf das sich Entscheidungen beziehen, ist historisch variabel und selbst «immer schon das Ergebnis von Bedeutungszuschreibungen». Deshalb bedürfen kollektive Akteure wie Bürgergemeinden oder der Kanton «institutionalisierte[r] Zurechnungsverfahren»,104 um zur Existenz zu gelangen.

      4. Damit ist noch einmal ein umfassender Begriff von politischer Kultur angesprochen. Für die Rekonstruktion diskursiver Praktiken soll nämlich ein ebenso weiter Symbolbegriff zur Hand genommen werden: Institutionalisierte Zurechnungsverfahren zielen auf die «fundamentale Konstituierung der sozialen Welt»105 durch das Handeln von Institutionen, wie es sich in Protokollen, Korrespondenzen, Verfügungen, Entscheiden, Abstimmungen usw. manifestiert. Dies heisst nicht, dass sich analytisch nicht

      eine besondere Spezies von Zeichen, die […] über sich selbst hinaus auf etwas anderes, auf einen grösseren Zusammenhang verweisen, also sprachliche Metaphern, Bilder, Artefakte, Gebärden, komplexe symbolische Handlungssequenzen wie Rituale und Zeremonien, aber auch symbolische Narrationen usf.106

      unterscheiden liesse. Zu dieser besonderen Kategorie von Zeichen gehören das Kollektivsymbol «Bodenständigkeit/bodenständig» oder das Fahnenwort Gemeindeautonomie. So wird zu zeigen sein, wie die Gemeindeautonomie als identitätsstiftender Kampfbegriff «bewusst gewählt und dezidiert verwendet» wurde, um «in Konfliktsituationen, aber auch für das Selbstverständnis ‹Flagge zu zeigen›».107 Auch am Auftauchen des Begriffs «Bodenständigkeit/bodenständig» soll dargestellt werden, wie dieser Komplexität reduzieren und realitäts- und identifikationsstiftend wirken konnte. Anders als dem Fahnenwort Gemeindeautonomie kam ihm als Kollektivsymbol die Funktion zu, mehrere Diskurse miteinander zu verbinden.108 Gilt es bei beiden einerseits die historische Herkunft zu klären, können andererseits sowohl die Gemeindeautonomie als auch die «Bodenständigkeit» zeigen, «welch fundamentale Rolle symbolische Praktiken und diskursive Strukturen schon bei der Konstitution von politischen Institutionen, Ordnungskategorien, Geltungs- und nicht zuletzt Herrschaftsansprüchen spielen».109

      5. Es gehört schliesslich zu den fundamentalen Einsichten diskurstheoretischer Ansätze, dass Wissen zirkuliert. Erstens bedeutet dies, dass Wissen keinen Ursprung an einem einzigen Ort hat, der womöglich zwingend mit der akademischen Wissenschaft zu identifizieren wäre, auch wenn rationales Wissen seinen «Kristallisationskern» seit der Moderne in den sich ab dem 19. Jahrhundert etablierenden Wissenschaften findet. Doch selbst um diesen «Kristallisationskern» herum entwickelt und verändert sich Wissen «immer wieder neu durch die Zirkulation zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, bis es sich darin möglicherweise ‹verbraucht› und wieder verschwindet».110

      Zweitens folgt daraus, dass Wissen einen hybriden Charakter hat. Wissen ist daher nie in einer Reinform vorhanden, vielmehr ist davon auszugehen, dass sich «auch in gut begründeten wissenschaftlichen Systemen» häufig «mehr oder weniger deutliche Spuren der Herkunft, der kulturellen, politischen oder sozialen Existenzbedingungen von Wissen» finden.111

      Am Ende dieser theoretischen Überlegungen ist zu fragen, was diese erkenntnistheoretischen Überlegungen für die eigene wissenschaftliche Forschung bedeuten. Es liegt auf der Hand, dass auch eine Kulturgeschichte der Politik nicht «ausserhalb» ihres Forschungsgegenstandes steht. Vielmehr konstruiert sie «die eigene ‹Objektivität› nicht anders als andere Akteure».112 Wenn sich diese Untersuchung auch auf das «genaue Beobachten von Unterschieden» beschränken will, so ist bereits dieser Vorgang durch die Auswahl des Untersuchungsgegenstandes oder normative (Vor-)Annahmen geprägt, während Explikation und Argumentation sich an wissenschaftlichen Kriterien der Sachlichkeit, Informativität, Präzision und Relevanz orientieren, mit denen man sich bei einem umstrittenen Gegenstand wie den Bürgergemeinden zwangsweise «unbequem» machen wird.113

      1.4 Blinde Flecken der Bündner Geschichte

      Bei der Gemeinde hat man es mit einem der prominentesten Gegenstände der Bündner Geschichte zu tun. Deshalb müsste, so der Frühneuzeithistoriker Jon Mathieu, eine vollständige Liste der Darstellungen zum Thema «wohl fast alle umfassen, die sich irgendwie mit Bündner Geschichte in unserem Zeitraum beschäftigten».114 Mathieus Einschätzung gilt indes nicht nur für die Frühneuzeit, wenn auch seiner Bemerkung etwas – vielleicht ungewollt – Typisches anhaftet: Die Bündner Geschichtsforschung ist bis heute tendenziell auf die Frühe Neuzeit und das (Spät-)Mittelalter fokussiert.115 Untersucht wurden vor allem die im 15. Jahrhundert entstandenen Gerichtsgemeinden und ihre kleineren Einheiten, die Nachbarschaften.

      Dabei hatte man es in Graubünden lange «mehrheitlich mit einem von historisch interessierten Juristen geprägten Geschichtsbild […]»116 zu tun. Insbesondere für eine Geschichte des Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde sind diese Darstellungen wichtig, da sie die Entwicklung von den Nachbarschaften zu den modernen (Bürger-)Gemeinden miteinbezogen und Fragen der Gemeindeautonomie erstmals hier auftauchten. Oft nahmen die historisch argumentierenden Juristen sogar explizit Stellung zu den zeitgenössischen Problemen des rechtlichen Verhältnisses zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen. Es scheint daher sinnvoll, diese Untersuchungen bis in die 1970er-Jahre als Quellen für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden heranzuziehen.

      Wie sieht es demgegenüber mit der neueren Bündner Geschichtsforschung aus? Aus einem gewissen zeitlichen Abstand behandelte Peter Metz’ Geschichte des Kantons Graubünden Anfang der 1990er-Jahre politik- und verfassungsgeschichtlich die Entstehung des Niederlassungsgesetzes von 1874 und einige Aspekte des damit gekoppelten Konflikts um die Bürgergemeinden.117 Im Gegensatz dazu lassen das vierbändige Handbuch der Bündner Geschichte118 (2000) oder der Sammelband Gemeinden und Verfassung119 (2011) das Phänomen «Bürgergemeinde» praktisch gänzlich ausser Acht. Wenig mehr als statistisches Datenmaterial zum Thema liefert Adrian Collenbergs wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung von Trun, Andeer und Saas im Prättigau.120 Andere, über die Einzelgemeinde hinausgehende kultur- oder sozialgeschichtliche Monografien der modernen Bündner (Bürger-)Gemeinden fehlen.121 Das bedeutet auch, dass die spezifisch ortsbürgerlichen Werte und Praktiken