2 Vom Kommunalismus zur altrepublikanischen Gemeinde
Um eine Geschichte der modernen Bündner (Bürger-)Gemeinden erzählen zu können, ist eine fokussierte Darstellung ihrer Vorgeschichte vom Spätmittelalter bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts unerlässlich. Es geht dabei um die Genese einer vormodernen Form von Demokratie auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden, wie sie in ähnlicher Form auch auf dem Gebiet der eidgenössischen Landsgemeindeorte und der Walliser Zenden zu finden ist.
Im Brennpunkt dieser Darstellung stehen der Kommunalismus und die daraus entstandene alte – oder klassische – Form von Republikanismus am Übergang vom Spätmittelalter zum Freistaat der Drei Bünde. Dieses staatsstrukturelle Format ermöglicht es, die verschiedenen Formen der Exklusion und Inklusion der Hinter- und Beisassen,1 wie die Niedergelassenen bis ins 19. Jahrhundert genannt wurden, in den Nachbarschaften theoretisch zu erfassen. Altrepublikanische Vorstellungen blieben im 19. und 20. Jahrhundert für die identitätsstiftenden Geschichtsbilder Graubündens konstitutiv.2 Diese «Rechtstradition» haben die Verfechter der Bürgergemeinden vielfach eingesetzt, um die Korporation der Gemeindebürger zu erhalten. Neben der korporativ verstandenen Partizipationsberechtigung hat sich im Besonderen die Gemeindeautonomie als enorm anschlussfähiges Fahnenwort erwiesen, das nicht nur im Bürgergemeinde-Diskurs politische Wirkmacht entfaltet hat.
Als Erstes werden die Hauptlinien der Entwicklung bis zur Etablierung des frühneuzeitlichen Freistaats skizziert, in der die grösseren Gerichtsgemeinden die Hauptrolle spielen. Dessen ungeachtet treten bereits einige Unterschiede zutage, die später für die «Abstufungen» in der modernen politischen Kultur Graubündens und damit für den unterschiedlichen Organisationsgrad der Gemeindebürger nach 1875 von Bedeutung sind.
2.1 Gemeindebildung im Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit
Die politische Organisation auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden war im Spätmittelalter grundsätzlich von Adeligen und kirchlichen Herrschaftsträgern geprägt. Doch ähnlich wie in der Innerschweiz kann davon ausgegangen werden, dass die feudale Grundherrschaft und die damit verknüpften Rechte an den darin lebenden Personen spät, lückenhaft und nur oberflächlich realisiert werden konnte.3 Eine lokale, ländliche Gemeindebildung unter feudalrechtlichen Vorzeichen ist entsprechend bereits für das Hochmittelalter nachweisbar. Die abhängigen Bauern hatten die Möglichkeit, ihre inneren Verhältnisse selbst zu regulieren.4 Der Organisationsgrad dieser Nutzungsgenossenschaften stieg im 14. und 15. Jahrhundert stark an. Ihr Zweck bestand in erster Linie darin, die Nutzung des Gemeinlands, also Wald, Wasser, Weiden und Alpen, zu regeln. Der dafür notwendige Dorfvorsteher wurde von der Nachbarschaftsversammlung gewählt und musste auch Bestimmungen über Zäune, Mauern, Feldwege, Waschhäuser, Backöfen und anderes mehr durchsetzen. Die Eigenbetriebe der Feudalherren waren in der Regel nicht mehr als gewöhnliche Mitglieder dieser Nutzungsgenossenschaften.5
Die wirkmächtige «Epoche der Gemeinden» wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts aber von einem grösseren Gebilde eingeläutet.6 Als sich um 1350 die Herrschaftsgebiete des Churer Bischofs und des rätischen Hochadels verdichteten, bildeten sich die Gebiete der späteren Gerichtsgemeinden aus, die in der Regel mehrere Nachbarschaften umfassten. Diese Herrschaftsverdichtung durch die Feudalherren wäre wohl ohne die Mitwirkung «von unten» organisatorisch nicht möglich gewesen. Die von der Gemeinde vorgeschlagenen oder sogar gewählten Ammänner (rätorom. mistral/mastrel, in Südbünden podestà) und ihre Amtsleute vermittelten als Vorsitzende der niederen, das heisst zivilen Gerichtsbarkeit zwischen Feudalherren und Bauern. Bereits ab dem letzten Viertel des 13. Jahrhunderts tauchten als Verbände dieser Art die Walsergemeinden Rheinwald und Safien, Davos und Langwies unter ihren jeweiligen Feudalherren auf. Letztere behielten die Kriminalgerichtsbarkeit. Um 1350 findet man dann die ersten Talgemeinden unter dem Bischof von Chur (Oberengadin, Bergell), die obere Surselva unter dem Abt von Disentis, das Schamsertal unter den Werdenberg-Sargans.7
Nach Mitte des 14. Jahrhunderts bildete sich zwischen diesen Gerichtsgemeinden allmählich ein Bündnisgeflecht aus. 1367 versammelten sich Amtsleute aus den Gerichtsgemeinden des Bischofs, Vertreter des Domkapitels und der Stadt Chur, um gegen das Vorgehen des Bischofs zu protestieren, der seine landesherrlichen Rechte für acht Jahre den Herzögen von Österreich übertragen hatte.8 Bis um 1500 wuchs die Machtstellung dieses später Gotteshausbund genannten Bündnisses (Chur, Ober- und Unterengadin, Surses, Domleschg, Bergell) zuungunsten des Bischofs, woran vor allem der in den Gemeinden agierende lokale Dienstadel und die Stadt Chur beteiligt waren.9 Der Obere oder Graue Bund, der die Surselva und den heutigen Bezirk Moesa umfasste, war hingegen 1395 gegründet worden, um den Landfrieden zwischen dem Abt von Disentis und den Herren von Rhäzüns und Sax zu gewährleisten.10 Wiederum ohne die Beteiligung von Feudalherren wurde schliesslich der Zehngerichtebund (Davos, Prättigau, Schanfigg, Maienfeld, Malans, Churwalden, Belfort) nach dem Tod des letzten Toggenburger Landesherrn 1436 in Davos gegründet.11
In ihrer Zwischenstellung zwischen Landesherr und Gerichtsgemeinde profitierten der lokale Dienstadel und die übrigen herrschaftlichen Amtsinhaber am meisten von dieser Entwicklung. Am Beispiel der Familie Planta von Zuoz ist belegbar, dass diese Aufsteiger dank ihrer lokal-regionalen Verankerung und ihrem Profitstreben den Abstieg der Feudalherren mitbefördert haben.12 Die Planta übernahmen im 13. Jahrhundert das Amt des Ammanns, im 14. Jahrhundert kamen sie dann in den Besitz der Zoll-, Jagd- und Fischereirechte des Bischofs. Weitere liquide Mittel flossen aus Bergbau und Handel. Nach 1400 bemühten sie sich, ihre Machtstellung gegen den Bischof als herrschaftliches Erbe zu legitimieren.13
Der Aufstieg einer neuen lokalen Elite durch die politisch immer wichtiger werdenden Gerichtsgemeinden befeuerte gleichzeitig die Entwicklung der Drei Bünde. Einerseits verfestigten sich innerhalb der Bünde frühstaatliche Strukturen, etwa in Form von Satzungen, die auf eine stärkere Kontrolle der Bevölkerung abzielten. Andererseits integrierten sich die einzelnen Bünde nach 1450 durch eine Reihe von Bündnisverträgen miteinander, wobei diese oft ohne Beteiligung der formal immer noch herrschenden Feudalherren abgeschlossen wurden. An Bundstagen trafen sich Abgeordnete von rund 50 Gerichtsgemeinden, wobei wichtige Verhandlungsgegenstände wie Bündnisfragen und Kriegszüge den Gemeinden vorgelegt werden mussten. Nach 1461 wird erstmals ein Schiedsgericht für alle drei Bünde fassbar, anlässlich der ersten gemeinsamen Militäraktion 1486/87 eine erste Kriegsordnung.14 Überhaupt sind es im weitesten Sinn aussenpolitische Angelegenheiten, die als wichtiger Impuls der staatsorganisatorischen Verfestigung der Drei Bünde angesehen werden. Zum einen waren das Soldverträge mit Frankreich, zum anderen Bündnisverträge mit der Eidgenossenschaft. Diese ermöglichten beispielsweise ein gemeinsames Vorgehen gegen die expansive Politik der Herzöge von Österreich in der Schlacht an der Calven 1499.15
Schliesslich gaben sich die Drei Bünde mit dem Bundsbrief von 1524 eine eigene Verfassung. Dieser staatliche Überbau stellte staatsorganisatorisch nach wie vor «nur eine dünne Hülle dar».16 Die Gerichtsgemeinden blieben eigene kleine Republiken, der Aufbau des neuen Freistaats der Drei Bünde stark föderalistisch geprägt. Die Abgeordneten des Bundstags, der obersten Behörde des Staats, stimmten nur nach Instruktionen der 52 Gerichtsgemeinden. Abgestimmt wurde lediglich gemeindeweise. Neue Entscheide waren dem Referendum der Gerichtsgemeinden unterworfen.17
Nichtsdestotrotz waren die 1524/1526 vom Bundstag erlassenen Ilanzer Artikel eine wichtige Grundlage für den weiteren Ausbau zu einem neuen «Gemeindestaat» (Randolph Head). Privatrechtlich ins Gewicht fiel die Verminderung von Abgaben, die Zehnten waren nun ablösbar. Zentrale Bedeutung kam vor allem dem zweiten