Züge dieser vormodernen Form von Republikanismus blieben in der modernen Schweiz gerade auf Bundesebene ein wirkmächtiges Konzept. Charakteristische Merkmale dieser vor-aufklärerischen Vorstellung von Republikanismus sind in erster Linie der Föderalismus und das Milizsystem, der Ständerat und das Ständemehr. Zudem war die politische Partizipation in der Schweiz de facto lange an wehrdienstfähige und autarke Männer gebunden, was die späte Einführung von Frauenstimmrecht und Zivildienst erklärt. Bis heute politisch eingesetzt werden das Schlagwort der direkten Demokratie, die Skepsis gegenüber dem Völkerrecht und der nationale Partikularismus, der sich unter anderem in der Ablehnung der EU manifestiert. Zu diesem Spektrum gehören auch Formen einer historisch begründeten, patriotischen Zivilreligion wie die Bauernstaatsideologie und die immer noch präsenten Rekurse auf 1291, Morgarten und Marignano statt auf 1848. Dazugehören kann auch eine xenophobe Gesinnung unter Betonung der nationalen Eigenart.35 Letzteres zeigt sich nicht zuletzt im Bürgerrecht, das immer noch kommunal verankert ist und lange über Plebiszite vergeben wurde: In Graubünden entschied noch Anfang der 1990er-Jahre das Kollektiv der Bürgerversammlung über Einbürgerungen von Ausländern und Schweizern, heute übernimmt dies der Bürgerrat.36
Die bis heute bestehenden Partizipationsprivilegien der Gemeindebürger sind als Teil dieses altrepublikanischen Erbes der Schweiz einzuordnen. Insofern kann auch der vor allem in Graubünden über Jahrzehnte ausgetragene Streit um die Eigentumsrechte und Kompetenzen der Gemeindebürger mit den Konflikten, die es auf nationaler Ebene teilweise bis heute zwischen den erwähnten altrepublikanischen Merkmalen und liberalen oder linkspolitischen Veränderungsbestrebungen gibt, in eine Analogie gesetzt werden. So wie der Rekurs auf die nationale Eigenstaatlichkeit der Schweiz oder das Milizmilitär bleiben auch die Bürgergemeinden mit ihren altrepublikanischen Prinzipien bis in die Gegenwart «ein Integrationsfaktor für eine uneinheitliche Nation».37
Donat Cadruvi spielte 1979 auf dem Crap Sogn Gion mit seiner Bemerkung über «Doktoranden und andere schreibfreudige Juristen» bereits auf die staatsrechtlich unsichere Lage an, in der sich die demokratischen Privilegien der Bündner Gemeindebürger in den 100 Jahren zwischen dem Erlass des kantonalen Niederlassungsgesetzes 1874 und dem Gemeindegesetz des Kantons Graubünden von 1974 befunden hatten. Es ist zunächst dieser Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, um den es in dieser Untersuchung geht. Er begann bereits Mitte des 19. Jahrhunderts und konturierte den Bündner Gemeindedualismus seit 1874 auf kantonaler Ebene bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus immer wieder neu.
Diese Konfliktgeschichte erfasst aber nicht das ganze Spektrum an Institutionen und Praktiken, mit denen die Gemeindebürger ihre Sonderstellung gegenüber den Nichtgemeindebürgern stabilisiert haben. Dazu gehören auch die Bürgervereine Chur und Igis oder Aspekte der Tagespolitik der Bürgergemeinden, das heisst die von den Politischen Gemeinden abgesonderten, oben kurz umrissenen Kompetenzen. Der Blick auf diese Bürgervereine, vor allem aber auf die Boden- und Energiewirtschaftspolitik soll die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden ergänzen. Die Bürgerrechtspolitik kanalisierte einerseits den Zugang zum (Schweizer) Bürgerrecht und hielt so oft eine Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern beziehungsweise zwischen Schweizern und Ausländern aufrecht. Andererseits konnte eine bestimmte Einbürgerungspolitik zur Selbstbehauptung der eigenen, von den Nichtgemeindebürgern distinkten Institution eingesetzt werden. Ähnlich konnten sich gewisse Bürgergemeinden mit der Boden- und Wasserrechtspolitik als behördliche Entscheidungsinstanz durchsetzen und gleichzeitig ein eigenes Selbstverständnis als Boden- und Wassereigentums- sowie als Wasserveräusserungsinstanz formulieren.
Am Ende wagt die Untersuchung einen Blick über die im engeren Sinn politischen Institutionen hinaus. Die besondere Stellung der Gemeindebürger konnte auch in der (relativen) Dominanz der Gemeindebürger in mehreren Vereinen, unter der Churer Unternehmerschaft oder bei verschiedenen Bräuchen eine Integrationsfunktion erfüllen, weil die Gemeindebürger selbst unter Gleichen «feine Unterschiede» aufrechterhielten.
Mit dem Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen, mit den Bürgervereinen, der Boden- und Energiepolitik, der Einbürgerungspraxis und den Distinktionsmechanismen ausserhalb gemeindebürgerlicher Institutionen soll am Gegenstand der Bündner Gemeindebürger dargestellt werden, dass altrepublikanische Demokratievorstellungen nicht nur als Gemeindeautono – mie, sondern auch in der Frage der politischen und wirtschaftlichen Partizipationsrechte innerhalb der Gemeinden eine wirkmächtige politische Tradition bildeten. Den Gemeindebürgern Graubündens gelang es, ein eigenes Selbstverständnis aus dem vormodernen Freistaat der Drei Bünde über die historischen Bruchlinien der Moderne hinaus zu erhalten. Zu zeigen, wie, wo und warum dies möglich war, ist das Ziel dieser Untersuchung. Gleichzeitig kann es in einer ersten Monografie zum Thema nicht darum gehen, möglichst alle Aspekte des historischen Phänomens Bürgergemeinde abzudecken. Gänzlich unberücksichtigt bleibt in dieser Untersuchung der neben der Bürgerrechtsverleihung und der Boden- und Wasserrechtspolitik wichtigste Zweig ihrer Kompetenzen: die Armenpolitik. Zum einen kann man diese Auswahl als willkürlich bezeichnen, weil sie auch aus arbeitsökonomischen Gründen erfolgt. Zum anderen ist zumindest der Umgang mit Fahrenden als Teil der Armenpolitik Graubündens bereits gut erforscht.38
Der Streit um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traf das aufklärerische Postulat der Rechtsgleichheit aller mündigen Männer auf die vormodernen Demokratieprinzipien der Bündner Gemeinden. Die Gemeindebürger genossen de jure – und vielerorts bis in die 1870er-Jahre auch de facto – das alleinige Stimm- und Wahlrecht und die Nutzungsrechte an den kommunalen Alpen, Weiden und Wäldern. Zugezogene, denen das Stadt-, Nachbarschaftsoder Landrecht fehlte, hatten in der Regel keinerlei politische Mitspracherechte. Bestand für sie die Möglichkeit, das Gemeindevermögen zu nutzen, war dies meist an besondere Gegenleistungen gebunden. Nachdem dieses Spannungsverhältnis in den 1860er-Jahren in der Stadt Chur das erste Mal virulent geworden war, griff der Kanton Mitte der 1870er-Jahre in den Gemeinden durch. Mit einem neuen Niederlassungsgesetz nahm er das erste Mal die exklusive Partizipationsberechtigung der Gemeindebürger zum Angriffspunkt.39 Dadurch wurden de facto Politische Gemeinden (Einwohnergemeinden) geschaffen, während den Gemeindebürgern die Möglichkeit gegeben wurde, sich für die wenigen, ihnen noch verbliebenen Rechtsprivilegien zu organisieren40 – was sie in einem Grossteil der Bündner Gemeinden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auch taten. Folgt man dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber, ging es den Behörden mit dem Niederlassungsgesetz nicht nur darum, einer ständig steigenden Anzahl mündiger Männer, die an ihrem Niederlassungsort nicht an der Politik und höchstens beschränkt am Gemeindeland teilhaben durften, zu mehr Rechten zu verhelfen. Der Bruch mit den alten Gemeindestrukturen war gleichzeitig ein Angriff auf ein Stück Gemeindeautonomie: Sie nahm den Gemeinden als Ganzes zwar keinen ihrer Aufgabenbereiche, die Gemeindebürger aber verloren fast vollständig ihre Sonderstellung als autonome Gesetzgebungs- und Verwaltungsinstanz.41 In diesem Spannungsverhältnis zwischen föderalistisch-altrepublikanisch geprägten Gemeinden und einem etatistisch-liberal modernisierenden Kanton situiert sich letztlich nicht nur die Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden, sondern die Abgrenzungsgeschichte innerhalb der Bündner Gemeinden überhaupt –