Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Simon Bundi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Bundi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199143
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die Einbürgerungspolitik rücken damit die umfangreichen Studien zum Schweizer Bürgerrecht in den Fokus. Diese bieten eine wertvolle Grundlage für den Vergleich der Einbürgerungspolitik der Bürgergemeinden mit jener des Bundesstaats, konzentrieren sich jedoch in den Fallbeispielen ausschliesslich auf die grossen Schweizer Städte.123

      Aus Bündner Sicht ist für eine Gemeindegeschichte schliesslich die Lokalgeschichte zu erwähnen, die immer einen populären Anspruch hat. Das Spektrum ist gross und reicht von Friedrich Pieths Das alte Seewis von 1910 (ohne Berücksichtigung der Zeit nach 1800) bis zu Paul Eugen Grimms detaillierter Studie über Scuol (2012). Ortsgeschichten, die im Auftrag der Bürgergemeinde geschrieben wurden, gibt es in Graubünden nur ganz vereinzelt. Sie beschreiben vor allem Rechtsverhältnisse und Sachgeschäfte der Vergangenheit.124 Der grosse Rest der über 65 Gemeindemonografien Graubündens125 liefert vereinzelt Rohmaterial für eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden. Zahlreiche Gemeindegeschichten enthalten wichtige historische Basisdaten zum Organisationsgrad der Gemeindebürger oder zur Einbürgerungspolitik. Gemeindemonografien sind demnach je nach Alter und Wissenschaftsgrad auf einem Kontinuum zwischen Darstellung und Quelle anzusiedeln.

      Nichtsdestoweniger fristet die Bürgergemeinde in der aktuellen Bündner Geschichtskultur eindeutig eine Randexistenz. Nimmt man knappe Übersichtsdarstellungen wie das Historische Lexikon der Schweiz zur Hand, spielt die Bürgergemeinde selbst in Artikeln zu Gemeinden mit den historisch (oder aktuell) bedeutendsten Bürgergemeinden – Chur, St. Moritz, Domat/Ems – höchstens beiläufig eine Rolle.126 Ein ähnliches Bild bietet ein Überblick über den Stand der Forschung in der übrigen Schweiz. Aus Schweizer Sicht sind zahlreiche Darstellungen zum Thema meist neuere Lokalgeschichten der Bürgergemeinde über sich selbst, viele mit aufklärerischem Gestus.127 Hinzu kommen einzelne rechtshistorische Abhandlungen zum Gegenstand der Bürgergemeinde.128

      Die bisher einzige kulturhistorische Darstellung der Bürgergemeinde nach 1874129 ist Katrin Rieders medial breit rezipierte Dissertation Netzwerke des Konservatismus von 2008. Ihre Analyse macht von Anfang an deutlich, dass die Burgergemeinde Bern als Bollwerk dem konservativen Berner Patriziat die politische, gesellschaftliche und kulturelle Vorrangstellung sicherte.130 Einen etwas differenzierteren Blick verspricht der jüngst erschienene Sammelband Von Bernern und Burgern. Tradition und Neuerfindung einer Burgergemeinde.131

      Schliesslich habe ich angedeutet, dass Bürgerlichkeit ein möglicher Schlüssel ist, um die Bedeutung der Bündner Bürgergemeinden in der Bündner Gesellschaft zu erklären. Damit rückt das freisinnig-liberale Bürgertum als jene «kulturelle Formation» in den Fokus, die als Motor der Verbürgerlichung gilt. Bürgerlichkeit als eine bestimmte Form von (politischer) Kultur ist in der Bündner Historiografie jedoch eine noch gänzlich unbekannte Grösse. Die zahlreichen Studien, die sich mit dem öffentlichen Engagement der in den meisten Fällen reformiert-bürgerlichen Bündner Oberschicht in der Moderne befassen, haben die Entstehung eines durch bestimmte kulturelle Ausprägungen verfassten Bürgertums bisher ausser Acht gelassen.132 Als konzeptionelle Basis dient mir deshalb die umfangreiche Forschung aus dem deutschsprachigen Raum, deren bürgerlicher Wertekanon ein «in allen europäischen Mittelschichten verbreitetes Kulturmuster» war.133 Als Gegenfolie sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit jener politischen Kultur herausgearbeitet werden, die neben dem bürgerlichen Freisinn in erster Linie die Bündner Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt hat: der politische Katholizismus.134 Für diesen liefern die Studien von Ivo Berther II mund sutsura. Die Welt steht Kopf135 und Urs Altermatts Katholizismus und Moderne136 die Ausgangspunkte. Das heisst nicht, dass das Bürgertum in katholischen Regionen keine Rolle gespielt hätte. Doch für ihre historisch viel geringere Wirkmächtigkeit innerhalb des katholischen Milieus spricht allein bereits, dass die Forschung in der Schweiz neben dem städtischen zwar das ländliche, nicht aber das katholische Bürgertum untersucht hat.137

      Schliesslich hat sich bislang für die Zeit nach dem Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes von 1874 weder die Bündner Geschichtswissenschaft noch die Bündner Volkskunde etwaigen Abgrenzungsmechanismen ausserhalb der kantonalen oder kommunalen Gesetzgebung angenommen, sodass diese Untersuchung auf diesem Gebiet einige erste Schritte wird machen müssen.138

      1.5 Die Quellenlage

      Eine Abgrenzungsgeschichte der Bündner Gemeinden nimmt nicht zuletzt aufgrund der Quellenlage eine bestimmte Form an. Für die Zeit vor dem Erlass des Niederlassungsgesetzes von 1874 wird der politische Konflikt um die Rechte von Gemeindebürgern und Niedergelassenen fast ausschliesslich in Quellen fassbar, die im Kontext der Churer Stadtpolitik entstanden sind, so in einzelnen Petitionen, Verwaltungsberichten oder -vorschlägen, einer selbstständigen Publikation und in einer Reihe von Zeitungsartikeln.

      Mit Inkrafttreten des Niederlassungsgesetzes Anfang 1875 öffnet sich der Fokus. Da nun sämtliche Bündner Gemeinden ihre Verfassung dem höheren Recht anpassen mussten, kann die Diskussion in der Tagespresse mit zahlreichen Gemeindeverfassungen, Petitionen, Gemeindeprotokollen und Angaben aus neueren Gemeindemonografien ergänzt werden.

      Mit den Bürgerinitiativen der 1890er-Jahre tauchen erneut selbstständige Publikationen in Form von kurzen Broschüren oder Rundschreiben auf, virulent wird das Problem wiederum in der Auseinandersetzung in den zahlreichen Tageszeitungen des Kantons.

      Auch die weitere Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden gibt die Auswahl der Bürgergemeinden gleichsam vor: Der Quellenkorpus für die vor dem Kleinen Rat (der Bündner Regierung) und vor dem Grossen Rat ausgefochtenen Rekurse der 1920er- und 1930er-Jahre setzt sich auf Gemeindeebene hauptsächlich aus Korrespondenzen zusammen, dazu kommen zahlreiche Zeitungsartikel. Neu sind für die Zeit nach 1900 rechtshistorische Untersuchungen in Form von Monografien, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, die den Entwicklungsgang der Gemeindegeschichte seit der Frühen Neuzeit im Fokus haben. Im Vorfeld der Abstimmung um das Gemeindegesetz vom Frühling 1945 tauchen mit Flugblättern, Zeitungsinseraten und Vorträgen neue Textsorten auf. Im Quellenbestand des 1946 gegründeten Verbandes Bündnerischer Bürgergemeinden, der in einer institutionellen Vorform bereits den Kampf gegen das Gemeindegesetz organisiert hat, befinden sich zahlreiche Korrespondenzen und Sitzungsakten der engagierten Gemeindevertreter. Die für eine Geschichte des Streits um Eigentumsrechte und Kompetenzen in den Bündner Gemeinden wichtige Kantonsebene liefert dafür die Verhandlungen des Grossen Rates und die dazugehörigen Berichte, Rekursentscheide des Kleinen und Grossen Rates, ferner Korrespondenzen und die Landesberichte des Kleinen Rates.

      Dagegen muss eine Abgrenzungsgeschichte unter der Perspektive der Einbürgerungs- sowie der Boden- und Wasserrechtspolitik angesichts der bis Anfang der 1970er-Jahre noch knapp 220 geografisch weitverstreuten Gemeinden139 im Kanton Graubünden notwendigerweise exemplarisch bleiben. Einerseits wurden die entsprechenden Bestände aus den bereits konsultierten Gemeindearchiven ausgewertet, andererseits wurden – nicht ohne eine gewisse Willkür der Auswahl – weitere Gemeindearchive ergänzend hinzugezogen, wobei jedoch die Konzentration auf Knotenpunkte der wirtschaftlichen Entwicklung bei der Boden- und Wasserrechtspolitik die Auswahl der infrage kommenden Gemeinden stark eingeschränkt hat. Im Fokus stehen Einbürgerungsgesetze, Korrespondenzen, Gemeindeprotokolle, Botschaften zu Handen der Bürgerversammlung, Reden, Vorträge und Zeitungsartikel. Des Weiteren erlaubt es die 1965 vom Staatsarchiv Graubünden publizierte Einbürgerungsstatistik, Aussagen über alle Gemeinden des Kantons zu treffen. Beim Versuch am Ende dieser Untersuchung, eine Geschichte der Gemeindebürger und Nichtgemeindebürger in den Vereinen und im Brauchtum zu skizzieren, gestaltet sich die Quellenlage schwieriger: Zu den Bürgervereinen Chur und Igis sind für den Untersuchungszeitraum nur wenige Quellen überliefert. Schriftliche Quellen zum Ausschluss der Niedergelassenen in der Praxis des Brauchtums gibt es nur sehr vereinzelt. Für die Dominanz der Gemeindebürger in anderen Vereinen wurden vor allem gedruckte Mitgliederlisten einer mehr oder minder zufälligen Auswahl von Organisationen konsultiert – die Auswahl liesse sich hier mühelos vergrössern.

      Eine grosse Menge der ungedruckten Quellen ist in Chur greifbar: Den ergiebigsten Bestand liefert das Archiv der Bürgergemeinde Chur, das auch das