«Hier besteht nämlich eine sogenannte Burgergemeinde innerhalb der eigentlichen Commune.»1
Friedrich Engels über die Stadt Bern, 1848
Der 9. Juni 1979 muss ein schöner Tag auf dem Crap Sogn Gion gewesen sein. Der Schweizerische Verband der Bürgergemeinden hatte zur Generalversammlung hoch über Laax geladen, wo die 320 Delegierten von der «prächtigen Bergwelt» begeistert waren.2 Vor dieser Kulisse sprach Regierungsrat Donat Cadruvi zur Lage der Bündner Bürgergemeinden. Cadruvi, Anwalt, CVP-Politiker, Schriftsteller und Tourismusförderer ebendieses Crap Sogn Gion, begann seine Ausführungen mit einer Feststellung. Es gäbe Leute, so Cadruvi, die kaum noch wüssten, «dass es in unserem Land oder in Graubünden noch Bürgergemeinden gibt». Andere wiederum hätten reichlich diffuse oder gar keine Vorstellungen über den Sinn, die Bedeutung und die Funktion dieser Gebilde. Dies sei eigentlich erstaunlich, wenn man wisse, «welchen Fleiss Doktoranden und andere schreibfreudige Juristen» an den Tag gelegt hätten, um entweder nachzuweisen, dass es Bürgergemeinden mit gesetzlich geordneten Aufgaben gibt, oder um nachzuweisen, dass es sie nicht gibt.3 Seinen Zuhörern konnte Cadruvi eine Definition der Bürgergemeinden natürlich schuldig bleiben. Noch heute aber sind diese öffentlich-rechtlichen Personalkörperschaften, deren Angehörige das gleiche Bürgerrecht besitzen,4 vielerorts mehr oder minder unbekannt.
Bürgergemeinden können «neben» oder «innerhalb» der in Graubünden als Politische Gemeinden bezeichneten Einwohnergemeinden (das heisst den Gesamtgemeinden) bestehen und sind auch von den Kirchgemeinden oder Schulgemeinden zu unterscheiden.5 Da sich die rechtliche Organisation der Gemeinden in der Schweiz seit der Zeit der Helvetischen Republik nicht überall gleich entwickelte, hat sich die Bedeutung der im 19. Jahrhundert entstandenen Bürgergemeinden bis heute sehr unterschiedlich herausgebildet.
Die Entstehung von Einwohnergemeinden ist eine Folge der Aufklärung mit ihrer Forderung nach egalitär-demokratischen Partizipationsrechten. Als diese auf naturrechtlicher Gleichheit und Volkssouveränität basierende neue Art von Demokratie 1798 auf dem Gebiet der heutigen Schweiz das erste Mal erprobt wurde, musste ein Kompromiss geschaffen werden. Es ging darum, die bestehenden Privilegien der bisher ausschliesslich partizipationsberechtigten Stadtbürger, Dorfnachbarn oder Landsmänner mit den neuen Partizipationsmöglichkeiten von Hinter- und Beisassen oder Untertanen in Einklang zu bringen. Deshalb schuf man einerseits eine alle Schweizer umfassende Einwohnergemeinde, die als allgemeiner Wahl- und Abstimmungskörper funktionierte. Andererseits behielten die bisher rechtlich privilegierten Stadtbürger, Dorfnachbarn oder Landsmänner in einem eigenen Wahl- und Abstimmungskörper die Verwaltung des nur ihnen gehörenden Gemeindevermögens und der Armenpflege.6 Während der Mediation und der Restauration blieb dieser Gemeindedualismus in einigen Kantonen bestehen, während in anderen wieder allein die Alteingesessenen oder jene Einwohner, die sich in das lokale Stadt- oder Dorfrecht eingekauft hatten, die politischen Geschicke bestimmten.7 Einem zwingenden Mitbestimmungs- und Mitnutzungsrecht aller niedergelassenen Schweizer musste sich diese privilegierte Gruppe von Gemeinde- und Stadtbewohnern (seit der Moderne spricht man von Bürgern oder Gemeindebürgern – ich komme auf die Terminologie zurück) erst mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 unterwerfen. Allerdings hielt auch diese Verfassung fest, dass der «Mitanteil an Bürger- und Korporationsgütern sowie das Stimmrecht in rein bürgerlichen Angelegenheiten» davon ausgenommen seien, ausser die kantonale Gesetzgebung würde etwas anderes beschliessen.8 Damit waren nicht nur die bis heute bestehenden Einwohnergemeinden aus der Zeit der Helvetischen Republik (wieder-)geboren, sondern ebenso ein möglicher Gemeindedualismus von Einwohner- und Bürgergemeinde.
Bürgergemeinden in der heutigen Schweizer Gemeindelandschaft
Noch heute sind in der Schweiz die Kantone zahlreich, in denen die Gemeindebürger in einer selbstständigen Personalkörperschaft organisiert sind. Dazu gehören die Kantone Aargau, beide Basel, Bern, Fribourg, Graubünden, Jura, Luzern, Obwalden, St. Gallen, Solothurn, Tessin, Thurgau, Uri, Wallis und Zug.9 In den einzelnen Kantonen sind dabei nicht nur unterschiedliche Bezeichnungen für die hier summarisch «Bürgergemeinden» genannten Personalkörperschaften gebräuchlich;10 ebenso unterscheiden sie sich hinsichtlich Aufgaben und Kompetenzen beträchtlich.11 Zu ihren wesentlichen Aufgaben gehören die Verwaltung und das Verfügungsrecht über Teile des Gemeindevermögens oder Liegenschaften, Einbürgerungen, soziale und kulturelle Leistungen sowie die Vergabe ermässigter Nutzungstaxen an die Gemeindebürger.12 Am Ende dieses Kontinuums findet man das Waadtland und die Kantone Genf und Neuenburg, wo bei Wahlen, Abstimmungen und den Nutzungsrechten de facto schon seit dem 19. Jahrhundert keine Unterschiede zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen bestehen.13 Im Kanton Zürich wurden die noch bestehenden Bürgerverbände im Laufe des 20. Jahrhunderts aufgehoben.14
In Graubünden gehören heute Chur, Bonaduz, Domat/Ems, Landquart oder St. Moritz zu den wichtigsten Bürgergemeinden: An diesen Orten nehmen die Gemeindebürger mit eigenen Organen in erster Linie Einbürgerungen vor, verwalten ihr eigenes Vermögen (die Bürgerlöser15 und nach 1874 erworbene Liegenschaften), entscheiden über dessen Veräusserung und haben bei allen Geschäften, die das Nutzungsvermögen der Gemeinden (meist Wälder, Alpen und Weiden) betreffen, ein Mitspracherecht. Die Eigentumsverhältnisse an diesem sogenannten Nutzungsvermögen sind nicht überall gleich. In Domat/Ems oder Chur ist es im Besitz der Bürgergemeinde, in Bonaduz überwiegend im Besitz der Politischen Gemeinde, das heisst der Einwohnergemeinde.16 Einige der grösseren Bürgergemeinden im Kanton unterstützen darüber hinaus gemeinnützige Projekte, Sportvereine oder Musikschulen.17 Die Bürgergemeinde Chur besitzt beispielsweise noch das Bürgerheim Chur und das Gasthaus Gansplatz, die Bürgergemeinde Bonaduz das Seniorenzentrum Bongert.18 Weitere Gemeinden, die sich in neuerer Zeit als Bauherren betätigt haben, sind Domat/Ems, Landquart oder Lostallo.19
Andernorts sind die Bürgergemeinden in Graubünden bedeutend weniger aktiv. Teilweise machen sie kaum von ihren Rechten Gebrauch.20 Zudem sinkt ihre Zahl seit Mitte der 1990er-Jahre stetig.21 Im Zuge der um das Jahr 2000 begonnenen Gemeindefusionen nimmt sie noch rapider ab als jene der Politischen Gemeinden.22 Aufgelöst wurden zum Beispiel die Bürgergemeinden in Trun in der Surselva (1999),23 in Donat im Schamsertal (2003),24 in Mutten im Albulatal (2010),25 in der Val Müstair (2010)26 oder im Bergell (2010).27 Darüber hinaus gibt es in Graubünden Orte wie Vals (Surselva),28 Rongellen (Schamsertal)29 oder die ehemalige Heinzenberger Gemeinde Portein,30 an denen nie eine Bürgergemeinde institutionalisiert wurde. Schliesslich entstand dieser «sonderbare Dualismus zwischen Bürger- und Politischer Gemeinde»31 nicht überall als Ausbildung zweier getrennter Institutionen. Vielerorts ist historisch vielmehr eine abgestufte Gemeindeeinheit zu erkennen, bei der die Gemeindebürger ihre Geschäfte einfach nach den Versammlungen der politischen Gemeinde behandelten und nicht über eigene Statuten oder Vermögensinventare verfügten.
1.1 Eine kommunale Abgrenzungsgeschichte im nationalen Kontext
Dieses Buch gilt also einem Thema, das erklärungsbedürftig ist und auf den ersten Blick vielleicht sogar wenig brisant erscheinen mag. Dabei geben bereits diese wenigen Beobachtungen Anlass zur Annahme, dass die unterschiedlichen politischen Rechte innerhalb der meisten Schweizer Gemeinden historisch sehr wohl ein bedeutender Faktor für das Funktionieren des politischen Systems der Schweiz gewesen sind – und teilweise gilt das bis heute. Es liegt nicht nur an der Schweizer Gemeindeautonomie, dass man die politische Geschichte der Schweiz nicht einfach aus der Perspektive der Verfassung, gleichsam von «Bern» aus, ja nicht einmal als Summe aller Kantonsgeschichten schreiben kann. Ebenso wichtig sind die verschiedenen Partizipationsrechte in den Gemeinden und der Anspruch vieler Gemeindebürger, sich rechtlich stetig von den übrigen Schweizern abzugrenzen.
An dieser Abgrenzungsgeschichte der Gemeindebürger wird gleichzeitig erkennbar, dass die politische Kultur der Schweiz aus einer «merkwürdigen Mischung von archaischem und modernem Republikanismus»32 besteht. Dies