Die mit dem spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kommunalismus entstandenen, altrepublikanisch verfassten Gerichtsgemeinden und die darin enthaltenen Nachbarschaften haben sich im frühneuzeitlichen Freistaat Dreier Bünde «paradigmatisch» ausgeprägt.42 Dieser Entwicklung kommt für die Hierarchisierung innerhalb der ansässigen Bevölkerung eine wichtige Rolle zu. Der Kommunalismus, verstanden als Bewegung, die den Landgemeinden gleich den Städten eine eigene Satzungs-, Verwaltungs- und Rechtssprechungskompetenz verlieh, trennte in erster Linie die partizipationsberechtigten Einwohner von den Hintersassen dadurch, dass sich die Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften nicht nur immer mehr Rechte und Pflichten aneigneten, sondern auch den Zugang dazu regulierten. Der Kommunalismus ermöglichte somit einen vormodernen Republikanismus, bei dem nicht ein Gesamtstaat im Vordergrund steht, sondern föderalistisch organisierte Gerichtsgemeinden und Nachbarschaften, die als politisch-soziale Einheiten einer am Gemeinwohl orientierten Korporation von Männern zu verstehen sind, die «durch das Recht und gemeinsame Interessen verbunden sind».43 Den Zugang zu dieser frühen Form demokratischer Macht, die in den verschiedenen Gemeindeformen gründete, kanalisierten die weitgehend souveränen Gemeinden selbst.
Der 1803 entstandene Kanton hatte von Anfang an mit den Kontinuitäten der kommunalistischen beziehungsweise föderalistischen Strukturen des ehemaligen Freistaats zu kämpfen. Zur Diskussion stand das Rechtsverhältnis des Kantons zu den noch in vielen Bereichen autonomen alten Gerichtsgemeinden und den Nachbarschaften. Die auf die Gemeindebürger beschränkte Partizipationsberechtigung auf lokaler oder kantonaler Ebene wurde hingegen in der ersten Jahrhunderthälfte noch nicht infrage gestellt. Es ging zunächst ganz generell bei den Staatsaufgaben darum, «wie ein moderner Staat aussehen sollte und wie Bünden unter substantieller Wahrung der bestehenden altdemokratischen Freiheiten und Zuständigkeiten aussehen durfte».44 Doch das Problem der politischen und wirtschaftlichen Partizipation aller (männlichen) Gemeindeeinwohner musste früher oder später zu einem Zankapfel zwischen konservativen Altrepublikanern und liberalstaatlichen Erneuerern werden. In der Schweiz waren es eben nicht zuletzt die Gemeinden, die sich in der Frühen Neuzeit nicht nur eine Fülle von Kompetenzen angeeignet hatten, sondern als «souveräne Herrschaftsformen»45 eine sehr restriktive Form von alter Demokratie gegenüber dem modernen Staat verteidigten.
In Graubünden kam der radikale Bruch, wie erwähnt, mit dem Niederlassungsgesetz von 1874. Mit ihm verschwanden zwar die Partizipationsprivilegien der Gemeindebürger weitgehend, nicht aber das altrepublikanische Prinzip weitgehend autonomer Gemeinden an sich. Die Gemeindeautonomie wurde gleichsam auf die neuen Politischen Gemeinden übertragen und behielt bis heute im Kanton Graubünden eine wirkmächtige Persistenz. Das altrepublikanische Prinzip einer korporativ organisierten Personalkörperschaft blieb auf die sich nach und nach neu institutionalisierenden Bürgergemeinden beschränkt oder konnte im Sinne einer abgestuften Gemeindeeinheit durchgesetzt werden. In letzterem Fall nahmen die Bürger ihre Rechte innerhalb der Organe der politischen Gemeinde wahr (wobei in den Quellen bisweilen dafür ebenfalls der Terminus Bürgergemeinde auftaucht). Da sich die knappen Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes von 1874 rasch als ungenügend erwiesen, kam es in der Folge zwischen einzelnen institutionalisierten Bürgergemeinden und Politischen Gemeinden zu einer langen Reihe von juristischen Konflikten betreffend Eigentums- und Kompetenzfragen. Die hohe Zahl dieser oft über mehrere Instanzen gezogenen Rechtsstreitigkeiten dürfte in der Schweiz einzigartig sein.46 Diese lange Abfolge von Versuchen, die Bündner Bürgergemeinden staatsrechtlich zu konsolidieren, bildet den ungefähren chronologischen Rahmen der ganzen Untersuchung und prägt das Selbstbewusstsein der Bündner Bürgergemeinden teilweise bis heute.47
Die Werte und Selbstbilder der Gemeindebürger haben sich am häufigsten in solchen Auseinandersetzungen mit den Verfechtern der Politischen Gemeinden und mit dem Kanton materialisiert, wodurch allein bereits eine detaillierte Analyse dieses Problemkomplexes begründet scheint. Um ihre verbliebenen Rechte haben die Gemeindebürger im Laufe der Jahrzehnte mit unterschiedlichen Argumenten gekämpft, unter anderem auch mit der im Kanton Graubünden allseits präsenten Gemeindeautonomie, die nicht zuletzt für die neuen Politischen Gemeinden ein identifikationsstiftendes Merkmal wurde. Die am Konflikt beteiligten Kräfte waren diskontinuierlich und heterogen verfasst: Weder kann ausschliesslich von einer einfachen Polarisierung zwischen einem progressiven Kanton und retardierenden Bürgergemeinden ausgegangen werden, noch waren einzelne Bürgergemeinden und die kantonalen Behörden die einzigen Instanzen, die am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt waren. Ihre Macht wurde immer wieder von anderen Instanzen wie ausserbehördlichen Komitees, Kommissionen, Juristen, der Stimmbevölkerung und dem Verband Bündnerischer Bürgergemeinden begrenzt.48 Zwei Eigenheiten dieser Geschichte scheinen mir wichtig:
Erstens weist diese Konfliktgeschichte Konjunkturen auf. In Graubünden wurde ab Mitte der 1920er- bis Mitte der 1940er-Jahre am intensivsten um die rechtliche Ausgestaltung der Bürgergemeinden gerungen. Es fällt auf, dass die signifikanteste Konjunktur dieses verfassungsgeschichtlichen Aspekts der Bündner Bürgergemeinden sehr genau der Konjunktur der Verwendung des Begriffs «Bürgergemeinde» im deutschsprachigen Raum entspricht, wie sie der Google Books Ngram Viewer zeichnet.49
Während diese Kurve im Grunde nur das Erscheinen des Begriffs «Bürgergemeinde» beschreibt, ist zu fragen, in welchen historischen Problemlagen dieser Begriff vorkommt, warum diese Häufungen in bestimmten Zeitabschnitten entstehen konnten und mit welchen anderen Diskursen das zusammenhängt.50 Der Fokus auf den politischen Konflikt um die Stellung der Gemeindebürger drängt sich umso mehr auf, da offensichtlich über die Bürgergemeinde zur gleichen Zeit auch ausserhalb Graubündens mehr als davor oder danach geschrieben wurde.51 Meines Erachtens indexiert diese Kurve aber noch einen grösseren Zusammenhang, sie verweist gleichsam auf die eigentliche «Fallhöhe» des Themas in der Zwischenkriegszeit. Die Kurve korreliert mit dem Rückzug des politischen Liberalismus in der Schweiz, der bereits ab den 1870er-Jahren an Schubkraft verlor, dann verstärkt ab Ende des 19. Jahrhunderts von der «neuen Rechten», einer heterogenen Bewegung reaktionärer und konservativer Intellektueller, konkurrenziert wurde und nach dem Ersten Weltkrieg, am Ende des «langen 19. Jahrhunderts», sich mit einem seit der Bundesstaatsgründung von 1848 nie dagewesenen Kultur- und Wirtschaftsprotektionismus verschmolz.52 Die Geschichte der Bündner Bürgergemeinden erlaubt es, diesen Wandel nicht nur auf gesamtschweizerischer Ebene zu beobachten, sondern ausgehend von den kleinsten Einheiten des Schweizer Staatsaufbaus, den Gemeinden.
In Graubünden versuchte ein Kreis von Gemeindebürgern in den 1890er-Jahren, unter den reaktionären Vorzeichen der «neuen Rechten» die verbliebenen Rechtsprivilegien der Bürgergemeinden auszubauen. Ab den 1920er-Jahren gewann dann die Analogie der Bürgergemeinde-Schützer zu ähnlichen konservativ-protektionistischen Diskursen wie dem Heimatschutz, der Trachtenbewegung, der rätoromanischen Heimatbewegung oder der vom Schweizer Bauernverband befeuerten Bauernstandsideologie an Schärfe, sodass sich diese Strömungen in den «Krisenjahren der klassischen Moderne» (Detlev Peukert) gegenseitig verstärkt haben. An Bedeutung gewannen nicht zuletzt auch die Einwohner- oder Politischen Gemeinden, erreichte doch ihre Zelebrierung als autonome Bausteine des Föderalismus mit dem von allen Gemeindefahnen überhängten «Höhenweg» an der Landi 1939 einen nie dagewesenen Höhepunkt. Der kleinste gemeinsame Nenner dieses konservativen Kulturprotektionismus war das Kollektivsymbol einer anthropologisch aufgeladenen «Bodenständigkeits»-Metapher. Diese entfaltete auch in der seit dem Ersten Weltkrieg immer restriktiveren Schweizer Bürgerrechtspolitik ihre Wirkung, wovon in einem eigenen Kapitel noch die Rede sein wird.
Zweitens manifestierten sich der Widerstand gegen die Eingriffe des Kantons und die Konflikte zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde nicht in allen Regionen des Kantons. Dasselbe gilt bereits für die Formen der Abgrenzung zwischen Gemeindebürgern und Nichtgemeindebürgern innerhalb der Gemeinden nach 1875. Ein möglicher Ansatz, um dies zu erklären, bietet meines Erachtens jene «kulturelle Formation»,53 die in der Schweiz «eine historisch weit reichende Gestaltungskraft»54 gewann: das Bürgertum als Träger von Bürgerlichkeit, wobei Bürgerlichkeit nie einfach mit der Rechtskategorie der Gemeindebürger