Die Geschichte der modernen Transportinfrastruktur ist voll solcher bildhafter Marker, die ästhetische Korrespondenzen an die Stelle setzten, wo die Technik einen Schnitt zwischen den Reisenden und der durchreisten Landschaft vollzog.18 Diese Marker zeichneten sich dadurch aus, dass sie in einer standardisierten, gleichförmigen Art lokale Besonderheiten betonten. Ein augenfälliges Beispiel für die visuelle Möblierung des Eisenbahnraumes waren die Hinweisschilder, die in grossen Buchstaben an den Bahnhöfen den Namen des betreffenden Ortes angaben, sodass man sich auch aus schnell fahrenden Zügen orientieren konnte. Das System wurde im 20. Jahrhundert für den Strassenverkehr und die Automobilisten übernommen. Seither gibt es Ortstafeln. So wussten die Reisenden, wo sie gerade waren, wenn sie sich nicht bei den Einwohnerinnen und Einwohnern erkundigen konnten. Als Marker dienten auch Landkarten und Pläne, aus denen die Abfolge der Ortschaften leicht zu entnehmen war. Und auch die Reiseführer und die literarischen Reisebeschriebe funktionierten in diesem Sinne als Orientierungshilfen.
Carl Spitteler war beim Schreiben seines Reiseführers zur Gotthardstrecke im Jahr 1897 noch weit entfernt von der Industrialisierung des Reiseerlebnisses, wie wir es heute kennen. Er spürte jedoch die Kluft, die sich zwischen der Ästhetik und der Technik auftat. Er fand seine Schrift über die Gotthard-Reise künstlerisch unbefriedigend und verhinderte ihre Veröffentlichung.
Fridolin Becker 1908
Zehn Jahre nach Carl Spitteler verfasste ein Professor für Kartografie und Geografie an der ETH Zürich, Fridolin Becker, im Rahmen einer Serie von Bahnführern eine Beschreibung der Gotthard-Strecke. Die Reihe hatte den programmatischen Titel «Rechts und Links der Eisenbahn!».19
Die Serie aus Gotha deckte alle Eisenbahnen zwischen Mailand und St. Petersburg ab. Jede Streckenbeschreibung wurde mit einem knappen Hinweis «an den lesenden Eisenbahnfahrer» eröffnet, der die besondere Absicht der Publikationen im Unterschied zu anderen Reiseführern erklärte: Sie fokussierte nicht auf die Reiseziele, sondern auf die Reisewege selbst. Die Narration orientierte sich streng an der Abfolge der Reisestationen, und um möglichst unmissverständliche Korrespondenzen zu erzeugen, wurde eigens der Hinweis gemacht: «Die Bezeichnungen rechts und links gelten im Sinn der Fahrtrichtung und sind von rückwärts Sitzenden zu vertauschen.»20 Die Textsammlung war ganz auf Reproduzierbarkeit angelegt. Das Stakkato der Dampflokomotiven wiederholte sich in der schnellen Folge einzelner Lokalitäten, die in den Streckenbeschreibungen abgespult wurden. Es fand sein Echo nicht nur im Betrieb der dampfgetriebenen Druckmaschinen, die die Hefte in einer grossen Auflage produzierten, sondern auch in den vielen Nummern der Reihe, die nach dem gleichen Muster unterschiedliche Strecken abhandelten. Und die Wiederholung fand auch in den tausendfachen Aktualisierungen der Sichtvorgabe durch die Fahrgäste im Zug statt, die mit den Büchlein in der Hand unterwegs waren.
Die Königsstrecke des europäischen Netzes war dabei die Gotthardbahn. Mit Heft 73 in der Hand konnte der technisch bezwungene Alpenpass wieder zum landschaftlichen Erlebnis werden. Becker ging ausführlich auf das Arrangement mit den drei Sichtpunkten auf die Kirche von Wassen ein und setzte einen Bezugspunkt voran: den Kirchbergtunnel, während dessen Durchfahrt naturgemäss nur schwarze Wände zu sehen waren, der aber durch den Text mit einer grossen visuellen Bedeutung aufgeladen wurde. Auch der folgende Tunnel war Gegenstand von Beckers Anleitung: «Nun wendet die Bahn im 1090 m langen Wattingertunnel in einem halben Kreis im Berge herum, ohne dass wir das, wenn wir wenigstens nicht die Nadel eines Kompasses verfolgen oder ein Lot beobachten, das uns zeigt, dass der Bahnwagen sich etwas nach rechts hinüber neigt – während der Fahrt, beachten.»21 Das kleine Experiment, das darin bestand, zum Beispiel ein Taschenmesser im Fahrgastraum aufzuhängen, zeigte, dass sich der Eisenbahnwagen nicht auf seiner normalen Gerade, sondern in einer Kurve bewegte, die ein Tribut an die zu überquerenden Berge war. An der Neigung des Lotes konnte die Gestalt der durchfahrenen Landschaft abgelesen werden – eine fast naturwissenschaftliche, laborähnliche Umwelterfahrung.22
Die Anweisungen waren überaus präzise. Mit dem Richtungswechsel im Tunnel ging jeweils auch ein Seitenwechsel für die privilegierte Aussicht einher, den Fridolin Becker mit der Aufforderung «links sitzen» kommentierte. Nur von der richtigen Seite im Zugabteil aus konnte man sich nach dem Durchfahren des Reigens von Tunnel und Brücken bei Wassen im Blick zurück eine Übersicht verschaffen – die dank dem Hinweis des Reiseführers auf die Kirche von Wassen als Orientierungspunkt nie ganz verloren gegangen war. Becker schloss seine Beschreibung des Streckenabschnitts mit dem Satz ab: «Gut, dass wir uns wieder etwas von dem Geschauten erholen können, es war fast zu viel.» Ab Göschenen entliess der Ingenieur seine nach Süden reisende Leserschaft in die Ruhe des Gotthardtunnels: «Wir lehnen in die Ecke und träumen.»23
Landschaftsinszenierung im industrialisierten Tourismus
Die Kirche von Wassen ist im Zeitalter der Industrialisierung des touristischen Transports zum einem Anker für das individuelle Erlebnis von Naturschönheiten geworden, das in der «Belle Epoque» wegen der Industrialisierung des Reisens als bedroht galt. Das Aufkommen des modernen Tourismus war begleitet von einem elitären Diskurs, der dem industrialisierten Reisen im Grunde den Erlebniswert absprach. Die technische Infrastruktur ebnete im Urteil der Kritiker beim Reisen die soziale Distinktion unter den Fahrgästen ein. Ihre individuellen Charakterzüge verschwanden ebenso wie die landschaftlichen Besonderheiten. In der physischen Topografie gab es deshalb keine metaphysische Transzendenz mehr zu spüren. Das wurde bald als weltweiter Vorgang beklagt. Die Autobahnen, die düsengetriebenen Passagierflugzeuge, die Flughäfen und die internationalen Hotelketten machten im Urteil der späteren Kulturkritiker die Problematik der Eisenbahnreise zu einem globalen Thema.24
Diesem Diskurs lag ein elitärer Erlebnisbegriff zugrunde, der in seinen feinen Differenzierungen jünger ist als der industrialisierte Transport. Das Erlebnis wurde als psychische Kategorie im ausgehenden 19. Jahrhundert von Wilhelm Dilthey entworfen, von Edmund Husserl in seiner phänomenologischen Analyse des Bewusstseins verfeinert und von Georg Simmel am Begriff des Abenteuers weiter ausgeführt. Der Begriff des Erlebnisses zielt auf zentrale Elemente der subjektiven Wahrnehmung, die nicht im Raum individueller Reflexion aufgehen, sondern mit dem zeitlichen Stattfinden eines bestimmten Ereignisses verbunden sind. Ein individuelles Erlebnis ist in diesem Sinne notwendigerweise selbsterlebt, es kann also nur durch die direkte Teilnahme am Geschehen stattfinden; es eröffnet der erlebenden Person einen Augenblick des Zugangs zum Ganzen des sie umgebenden Lebens; und es geht in die Erinnerung ein, von wo es in Verbindung mit anderen Erlebnissen der erlebenden Person eine zeitüberdauernde Identität verleiht.25 Ein solches Erlebnis kann zwar anderen Personen erzählt werden, es wird dann aber reflexiv verarbeitet und ist somit gerade nicht mehr unmittelbar erlebt. Ein Erlebnis ist aus diesem Grunde prinzipiell nicht reproduzierbar, sondern immer einzigartig.26
Das Erlebnis muss bedroht scheinen, wenn es auf die Geschäftspraktiken von Unternehmen wie der Gotthardbahn stösst. Denn es nährt sich aus einer einzigartigen Konstellation von Zeit und Raum und widerspricht der Kommerzialisierung. Der Tourismus schloss dagegen nicht nur eine vielköpfige Menge von Reisenden zu einem Erlebniskollektiv zusammen, sondern machte deren möglichen Erlebnishorizont auch von technischen Bedingungen abhängig. An diesem Punkt, der Vernichtung der Individualität, setzte Hans Magnus Enzensberger an, als er die moderne Reise als Montage einer fixen Anzahl genormter Höhepunkte zu einem industriell gefertigten Serienprodukt beschrieb und aus dieser Analyse schloss, die derart rationell organisierte Verfrachtung von erlebnishungrigen Menschen habe dem spontanen oder authentische Erlebnis den Boden entzogen. Zugespitzt formulierte er: Die Einzigartigkeit, die im Reisen gesucht werde, könne niemals an einem Bahnhof beginnen, denn dort steige die technisierte Massengesellschaft immer mit in den Eisenbahnwagen ein.27
Der Blick auf die Kirche von Wassen und auf die Nordrampe des Gotthards zeigt hingegen, dass vielfältige Vorkehrungen getroffen worden sind, um den Eisenbahnreisenden ein Erlebnis zu ermöglichen. Dreimal die Kirche von Wassen zu sehen und ein Sackmesser als Lot im Zugabteil aufzuhängen – das ist lange ein