Heidelbeeren heissen nämlich auch Blaubeeren und Schwarzbeeren; und ausserdem nennt man sie Mollbeeren, Wildbeeren, Waldbeeren, Bickbeeren, Zeckbeeren oder Moosbeeren, das habe ich aus Wikipedia. Und es gibt sie auch da, wo ich aufgewachsen bin. Unser Familien-Heubeeri-Revier lag am Nordhang vom Pilatus, im Eigenthal vor allem; da fuhren wir jeweils hin im hellblauen Opel mit dem weissen Dach, und die Behälter, in die hinein gesammelt werden konnte, lagen im Kofferraum bereit. Es waren die Schachteln, in denen die zusammenklappbaren «Doppelmeter» gelegen hatten, die mein Vater an seine Kunden verteilte … und natürlich fällt mir jetzt wie jedes Mal, wenn ich ans Heidelbeerenpflücken denke, die Geschichte von meiner Grossmutter ein.
Meine Grossmutter Anna, die Mutter meiner Mutter, eine schmale, brave Frau, hat einmal beim Heidelbeerenpflücken – wohl eher nicht am Gotthard; sie stammte aus Arth und heiratete nach Luzern – einen Ohrring verloren: Eines der Hängerchen aus Rotgold mit kleinen Granatsteinchen, die rund um einen etwas grösseren angeordnet waren. Wie zu einer Blume. Es waren die einzigen Ohrringe, die sie besass; sie waren ein Geschenk gewesen oder ein Erbstück und sie trug sie immer. Der Verlust war schlimm. Nein, er war unverzeihlich, und sie bekam Angst. Ich weiss nicht mehr, ob sie da schon verheiratet war mit meinem Grossvater, der bei der Polizei war und grobe Hände hatte, oder ob sie sich noch vor dem Zorn ihrer Mutter fürchtete; auf jeden Fall gab es für sie nichts anderes, als den Ohrring zu suchen. Umgehend. Das heisst, ihn zu finden.
Sie ging mit dem vollen Korb den Weg zurück, den sie beim Pflücken gegangen war: immer zwei, drei Schritte talseitig neben dem Pfad (denn bergwärts suchen alle, pflegte sie zu sagen). Sie bog die leeren Sträucher zurück und schaute nach etwas Goldenem, Glänzenden, und als sie lange nichts fand, begann sie zu beten. Rief den heiligen Antonius an, der Verlorenes zu finden weiss, und versprach ihm einen Fünfliber, wenn er ihr half, den Ohrring zu finden. Ging weiter und suchte, man rief jetzt schon nach ihr, «Anni! Wo bisch?»; wenn sie schon verheiratet war, war es ihr Mann, der rief, und da sie wusste, wie schnell er ungeduldig wurde, versprach sie dem Antonius noch einen zweiten Fünfliber. Suchte weiter und tat, als höre sie die immer unfreundlicheren Rufe nicht, «Herrgottsackermänt!», und fand tatsächlich bald darauf den Ohrring. Er hing an einer Staude und baumelte.
In Oberösterreich, heisst es im Buch zur «Geschichte und Volkskunde der deutschen Heilpflanzen», gehe die Sage, dass gerade dort, wo das Volk der Zwerge einschlüpfte, um seine goldenen Schätze im Boden zu bergen, ein Heidelbeerstrauch stand; und weil die Zwerge wegen ihres Reichtums verfolgt wurden, bot der Heidelbeerstrauch ihnen Schutz und versprach, «die Schätze zu verbergen». Meine Grossmutter Anna dagegen hatte das Glück, auf einen Strauch zu treffen, der ihren Schatz, den Ohrring mit der Granatblume, nicht verbarg. Oder ist es doch Antonius gewesen, der ihr geholfen hat?
Der Ohrring jedenfalls war wieder da und der Ärger, den ihr Wegbleiben geweckt hatte, traf sie nicht. Oder nicht wirklich. Wo sie allerdings das Geld hernahm, um ihre Schuld beim Heiligen zu begleichen, weiss ich nicht; ich kann mir bloss vorstellen, wie schwierig es für sie war, es aufzutreiben. Sie hatte bis in ihre Witwenzeit hinein nie eigenes Geld, obwohl sie immer arbeitete, und auch in der Ehe bloss Zugriff auf das Haushaltsgeld, über das Buch zu führen war. Aber vielleicht hat sie mit Antonius auch einen Deal gemacht? Hat ihm irgend etwas anderes versprochen oder ihn auf später vertröstet?
Er muss den Deal akzeptiert haben, denn die Ohrhängerchen gibt es noch. Beide. Meine Grossmutter trug sie, als sie mir die Geschichte erzählte, und sie hat sie uns vererbt, das heisst, der Nina, sobald sie alt genug dafür sei. Und das ist sie natürlich längst, denke ich stolz, während wir nach Teufelsstein und Teufelsbrücke, diesen Schulreise- und Pflichterinnerungsorten, die Haarnadelkurven nach Andermatt nehmen. Auf dem Hochplateau noch den Kreisel, drei Viertel zu umfahren, dann sind wir angekommen. Neben der Strasse liegt Schnee. Ich habe Lust auf einen Kaffee und etwas Süsses. Hoffentlich gibt es die Konditorei noch an der Kreuzung, da, wo die Strasse zum Oberalppass beginnt. Und irgendwo vielleicht sogar eine bediente Tankstelle.
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