Auf eine sozialgeschichtlich signifikante und politisch bedenkliche Weise begann sich schon vor der Inbetriebnahme des Bahntunnels mit jener Jubelfeier der Auserwählten eine Scheidung zwischen materiellem Transportweg und logistischer Kommunikationsführung zu etablieren. Die mit der raschen Bergdurchquerung ermöglichte Abstraktionsleistung erlaubte es den Reisenden, die hochalpine Engstelle, Wasserscheide und Sprachgrenze hinfort nur mehr als eine vorbeisausende Kulissenwelt wahrzunehmen. Künftig würde die Welt nicht mehr in Gebiete dies- und jenseits des Bergkamms zerfallen, sondern sich an der funktionalen Trennung zwischen topografischer Bindung und nichtterritorialen Verkehrsströmen ausrichten.
Nun galt es, sich entlang der in Rekordzeit passierbar gewordenen Bergstrecken auf neuartige Weise an eine phänotypische Widersprüchlichkeit des Reisens selbst zu gewöhnen, bedeutete doch die möglichst reibungslose Durchquerung eines Gebiets für die Aufmerksamkeitsökonomie der transitorischen Passagiere im Extremfall sogar die tendenzielle Vernichtung der durchquerten Landschaft, ihre Auflösung in den (und mit dem) Bewegungsvorgang selbst.
Der informierte Reisende
Die verlorene und im Verlust wiedergefundene Landschaft an der Gotthard-Passage: Hiervon künden die zeitgenössischen Erfahrungs- und Erlebnisberichte der ersten Generationen von Gotthard-Eisenbahnreisenden um 1900. Das Erlebnis der mit sausender Geschwindigkeit und müheloser Schienenfahrt erfolgenden Alpendurchquerung, welches die Fahrt von Luzern nach Lugano auf der Strecke zwischen Göschenen und Airolo zu bieten hatte, wurde zu einem der grossen Reiseerlebnisse für die Avantgarde des europäischen Firstclass-Tourismus. Davon erzählt das kleine Gotthard-Buch des Baselbieter Schriftstellers und Schweizer Nobelpreisträgers Carl Spitteler aus dem Jahr 1897;6 es ist als literarisches Nebenwerk vor allem die Frucht eines begeisterten Eisenbahn-Habitués, der die Gotthard-Strecke in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mehr als 30-mal mit seinem 1.-Klasse-Abonnement bereiste.
Weil die vornehmen, wohlhabenden und bedeutenden Passagiere neuerdings viel stärker in Tuchfühlung mit den durchschnittlichen Mitreisenden gerieten, war eine gewisse fortlaufende Distinktion angezeigt. Der Reisende, welcher etwas auf sich hielt, musste eine neue Art von Standes- und Qualitätsbewusstsein entwickeln, und er konnte dies unter anderem dadurch tun, dass er sich als der wohlvorbereitete und informierte Reisende erwies. Wie die ersten gattungstypischen literarischen Reiseführer der Baedeker-Reihe, so bewegt sich auch das Gotthard-Reisebuch Carl Spittelers in der paradoxen Aufgabenstellung, die Segnungen des privilegierten Blicks möglichst vielen Reisenden zugute kommen zu lassen. Das gepflegte, gediegene Reisen wollte gekonnt sein – also musste es auch erlernbar sein und in demokratisch pädagogischen Schritten vermittelt werden können.
Die 1871 mit Sitz in Luzern gegründete Gotthard-Eisenbahngesellschaft bediente sich öffentlichkeitswirksamer Werbemassnahmen. Zu diesen zählte auch die Idee, einen prominenten und populären zeitgenössischen Schriftsteller einzuladen, über diese neue Bahnstrecke und ihre Reisemöglichkeiten eigens ein Büchlein zu verfassen. Spitteler, der als Wahl-Luzerner ohnehin gleichsam vor Ort war und von seinem literarischen Profil her eine ideal erscheinende Synthese aus traditioneller Stilistik und moderner Wirkungsästhetik darstellte, nahm den Auftrag freilich erst nach längerem Zögern an, fürchtete er doch zunächst um sein künstlerisches Renommee angesichts dieses «schnöd prosaischen Promotionsauftrags», und dies sogar «trotz des offerierten Spitzenhonorars von 7000 Franken».7 Und noch nachdem er sich zu der Arbeit entschlossen hatte, wahrte Spitteler eine gewisse Distanz zu dem Unternehmen. Mehrfach betont er in dem Buch sowohl seine laienhafte Position im Hinblick auf viele der dargestellten Sachverhalte als auch den dienstleistenden Charakter dieser Prosa.
Der Band erschien in einer Auflage von 4000 Stück, wovon ein grosses Kontingent zu Werbezwecken in europäischen Grandhotels und an Bord der grössten Ozeandampfer ausgelegt wurde, weil man hier den genuinen Adressatenkreis eines alpinen Reisevorhabens vermutete oder den Hotel- oder Schiffsgästen bereits mit der Lektüre das Eintauchen in eine abenteuerliche Bergwelt ermöglichen wollte. Tatsächlich bietet Spittelers Gotthard-Vademekum sowohl für den Touristen, der die beschriebenen Sehenswürdigkeiten in situ zu erkunden riskiert, wie auch für den Lehnstuhl-Reisenden eine prickelnde, mit einer gehörigen Portion Reisefieber infizierende Lektüre. Dies gelingt dem Schriftsteller dadurch, dass er die Situation des Bahnreisenden als verbindliche und konstruktive Vorgabe für den eigenen Schreibprozess nimmt. Spitteler versetzt sich nicht in die Lage eines zeitgenössischen Benutzers dieser Bahnlinie, er ist selbst dieser kompetente Passagier, dem die Abfolge der Wegstücke, Aussichtspunkte und Stationen durch vielfaches Abfahren der Strecke schon in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Literarische Beschreibungskunst stellt sich in den Dienst einer wohlpräparierten, durch vorbereitendes Quellenstudium wie durch geschärften Beobachtungssinn bestens instruierten Bahnkennerschaft. Über die Flora in den verschiedenen Gebirgszonen vermag Carl Spittelers Band ebenso Auskunft zu geben wie über die geologische Beschaffenheit der Region. Seine Darstellung versammelt den aktuellen Kenntnisstand zur Bedeutung der Orts-, Berg- und Flurnamen im Gotthard-Gebiet, greift weit in die Geschichte der Erschliessung der Innerschweizer Bergwelt zurück und charakterisiert auch die Eigenart der vier wichtigsten Seitentäler, die der Schriftsteller unter Nutzung der neuen Haltestationen der Bahn intensiv durchwandert und erkundet hat. Selbst über die jahreszeitlich obwaltenden Klimabedingungen und Wetterschwankungen erstattet sein Reisebuch detailliert Bericht, sodass die zur Reise Entschlossenen abwägen können, unter welchen Gesichtspunkten sie die für ihre Unternehmung geeignete Jahreszeit wählen und als Reisegelegenheit ergreifen möchten.
Die eigentliche Besonderheit der Gotthard-Fahrt liegt, wie Spittelers Büchlein nicht müde wird zu betonen, in der Möglichkeit, auf engem Raum, in beschränkter Zeit und in rascher Folge denkbar verschiedenste Arten der Landschaft, der Besiedlung, des Lebens kennenzulernen. «Gibt es doch», wie Spitteler schon zur Einstimmung auf die grosse Fahrt festhält, «kaum ein Gebiet, das der Gotthard nicht trennte. Sprache, Sitte, Rasse, Politik, Geschichte und Kultur; Pflanzen- und Steinwelt, Klima, Farbe und Licht, alles ist drüben anders als hüben.»8 Besonders dramatisch kommt die sich ändernde Intensität des Lichtes und der Wärme beim Austritt aus dem südlichen Tunnelende zur Geltung, wenn die Uhr des jahreszeitlichen Vegetationszyklus im Tessin schon ein gutes Stück vorangerückt ist – so im Frühjahr – oder wenn im Herbst das südliche Alpental noch länger die Sommerwärme bewahrt als die Gebiete auf der Nordseite. Der Kundige empfiehlt deshalb: «Die Jahreszeit, in welcher der Wärmegewinn für eine Reise nach dem Süden wirklich Vorteil bringt, ist der Spätherbst, Oktober und November, wo meistens die Temperaturerhöhung zugleich durch Sonnenschein verschönt wird, und das Frühjahr: März, besser noch April und Mai.»9 Es scheint fast, als könnte der unerbittlichen Ökonomie des jahreszeitlichen Wechsels durch den simplen Erwerb einer Gotthard-Passage ein freches Schnippchen geschlagen werden: «Um zehn Uhr vormittags aus dem Winter von Luzern fort, um vier Uhr nachmittags im Sommer von Locarno, welch eine herrliche Möglichkeit!»10
Der hedonistische Aspekt einer unstatthaften Vermehrung der den Mittelländlern zugemessenen Sonnentage ist ein Lockmittel erster Güte. Doch tut Spitteler gut daran, diesen Drang an die südliche, palmenbestandene Seenküste nicht zum alleinigen Attraktionsfaktor zu machen. Würde man ihm restlos stattgeben, so nährte und