Gotthardfantasien. Lars Dietrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lars Dietrich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199136
Скачать книгу
vor der Durchquerung des Bristenstocks. Hier hat auch Spitteler alle Hände voll zu tun, wenn sich nach einer Tunnelausfahrt zur Linken und nur sekundenweise die Öffnung ins Maderanertal zeigt und nahezu zeitgleich zur Rechten rückwärtig schon der Anblick des Brückendorfs Amsteg vorbeihuscht oder schon vorbeigehuscht ist.

      «Sobald wir in den Windgellentunnel eingefahren sind, empfiehlt es sich, auf der linken Wagenseite Platz zu nehmen und das Auge bereitzuhalten, um beim Austritt aus dem Tunnel den Einschnitt des Maderanertals nicht zu übersehen, für welches bloss wenige Sekunden übrig sind. Denn jenseits der Brücke fahren wir gleich wieder in den Berg. Gleichzeitig erscheint zur Rechten, unten in der Tiefe, Dorf Amsteg mit der ersten Aufwärtswindung der Gotthardstrasse. Beides zu sehen, die Maderanertalschlucht und Amsteg, hält bei der Kürze der Zeit schwer, ja ist wohl überhaupt nur in der Weise möglich, dass man links sitzend zuerst das Maderanertal erschaut und hernach, sobald dieses verschwunden ist, unverzüglich nach der rechten Wagenseite hinübereilt, um auf Amsteg zurückzublicken.»18

      Ausgebuchte Züge oder allfällige Zusammenstösse mit anderen Reisenden können selbstredend bei diesen dramatisch geballten Sicht-Verpflichtungen nicht mehr mit ins Kalkül gezogen werden. Wie oft aber muss man wohl selber besagte Strecke mit scharfer Aufmerksamkeit abgefahren sein und wie zupackend hierbei die eigene Beobachtungsgabe eingestellt haben, um eine solche genaue Sequenzanalyse der Bewegtbilder von der Gotthardbahn anstellen zu können? Spittelers Eisenbahn-Reiseführer ist ein stilistisches Kabinettstück seiner Art, weil er auf eine nachmals schon rührend anmutende Weise noch mit Trassenführung und Tempo der Gotthardbahn wetteifert, die unter Volldampf bergwärts jagt, während der Schriftsteller seine Zeilen notiert. Wollte das Auge des Lesenden ihnen weiterhin in Echtzeit folgen, es müsste für die beschriebenen Schönheiten der Strecke erblinden und also entweder diese – oder eben den Text – anschliessend gleich noch einmal durchlaufen.

      Warum der Gotthard so wichtig ist

      Der Einklang von Ursprung und Fortschritt als nationaler Traum

      Peter von Matt

      Folgender Textausschnitt stammt aus dem ersten grossen Essay «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt. Zur Seelengeschichte einer Nation» in Peter von Matts Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Nach einer historischen Kontextualisierung von Rudolf Kollers Bild Die Gotthardpost (1873) zeichnet von Matt die Entstehung des eidgenössisch-alpinen Ursprungsmythos bei Albrecht von Haller (1708–1777) nach, der im Lauf des 19. Jahrhunderts durch den technischen Fortschritt sichtlich unterlaufen wird. Der durch Alfred Escher geförderte Gottfried Keller deutet – wie schon sein Kontrahent Jeremias Gotthelf zuvor – die Risse an, welche sich durch den noch jungen modernen Bundesstaat ziehen. Das individuelle Vertrauen in den sittlichen Kern und in die Vernunft des Volkes schwindet, um in eine äussere Nationalsymbolik umgegossen zu werden: in eine neue paradoxe Fiktion einer Einheit von Ursprung und Fortschritt, von der die Schweiz noch heute zu zehren scheint.

      Das Ereignis, dass Ursprung und Fortschritt in sichtbaren Einklang treten, ist ein geheimer Wunschtraum der Schweiz geblieben. Er stand als Antrieb hinter der legendären Landesausstellung in Zürich 1939, als die Schweiz mit den faschistischen Diktaturen im Norden und Süden konfrontiert war und Europa bereits am Rand des Kriegs stand. Dieser brach dann auch noch während der Ausstellung aus. Wie immer man jene Veranstaltung von heute aus auch beurteilt, die Bevölkerung der ganzen Schweiz erlebte sie damals als die Verwirklichung eines Traums; sie war das realisierte Idyll in dem hier pointierten Sinn und stand darin in der Tradition der von Keller verherrlichten nationalen Feste. Das war aber nur möglich, weil sie auch den technischen, industriellen und architektonischen Fortschritt emphatisch inszenierte. Dass daraus keine Dissonanz zwischen Rustikalität und Moderne entstand, dass das eine sich zu dem andern vielmehr in einer freundlichen Balance halten konnte, war nicht nur eine Leistung der Verantwortlichen, zu denen führende Architekten und Designer der Schweiz gehörten, sondern entsprach auch dem Gegenwartsbewusstsein der Bevölkerung. Die Eidgenössische Technische Hochschule von Zürich prägte die Ausstellung wesentlich mit und verhinderte mit der Präsenz ihrer Forschung das Abgleiten in den Schollenkult, der so sehr im Zug der Zeit lag. Er fand hier zwar schon auch seine Altäre, aber die drohende Dominanz wurde doch zurückgebunden. Ideologie- und zivilisationsgeschichtlich ist die Landesausstellung von 1939 wahrscheinlich das faszinierendste Ereignis der Schweiz im 20. Jahrhundert. Das Raffinement, mit dem hier Selbstverklärung mit präziser Information verbunden wurde und politische Bruchlinien um der Gemeinschaftserfahrung willen aus dem Gesichtsfeld verschwanden (die Flüchtlingsfrage zum Beispiel), ist nach wie vor das Studium wert. Gerade weil das Land von aggressiven Nachbarstaaten bedroht war, entwickelte es einen Mikrokosmos der Zeichen und Bilder, in denen es sich selbst erkannte und unverblümt feierte. Dabei galt die Regel der Überbrückung aller Gegensätze. Es herrschte ein kategorischer Imperativ der Versöhnung, der sich auch in der kulturellen Produktion jener Jahre niederschlug und der von der Politik leicht instrumentalisiert werden konnte. Als die Fronten nach dem Krieg wieder aufbrachen, war es dieser Geist, der «Landigeist», wie man ihn beschwörend nannte, der einer kritischen Aufarbeitung etwa der Flüchtlingspolitik den härtesten Widerstand entgegensetzte und der die Eingliederung der Schweiz in die starren Kampflinien des Kalten Kriegs beförderte.

      Dass dieses Ereignis eines fast unwahrscheinlichen Zusammenklangs von Ursprung und Fortschritt in Zürich stattfand, der grössten Stadt, dem Zentrum der zivilisatorischen Dynamik, war ein zusätzlicher Glücksfall. Damit wurde die Disharmonie von Stadt und Land, die sich seit je in der Gereiztheit gegenüber der Stadt Zürich manifestierte, im Voraus neutralisiert. Schon bei Haller stand die Ursprungsvision im pointierten Gegensatz zu den «großen Städten», und tatsächlich hat sich die Schweiz als Ganzes nie von ihren Städten, vom Kernphänomen Stadt her definiert – wie es etwa Frankreich mit Paris oder England mit London tun. Der symbolischen Gewalt der Berge waren die Städte nie gewachsen, obwohl in ihnen alle historischen Durchbrüche geschahen, von ihnen alle Energien der Veränderung, des Fortschritts also, und des Anschlusses an die «beschleunigten Processe» der Weltzivilisation ausgingen. Noch am Ende des 20., zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat ein Schriftsteller wie Hugo Loetscher leidenschaftlich geklagt und geschimpft gegen die Übermacht des alpinen Symbolpotenzials; niemand hat ihm widersprochen, aber genützt hat es nichts. Die Fantasie regiert die Menschheit, also auch die Schweiz, und wenns drauf ankommt, sich mittels Bildern über sich selbst zu verständigen, tauchen auch heute weder die Zürcher Bahnhofstrasse noch das Genfer Bankenviertel noch der Basler Rheinhafen auf, sondern wie eh und je der nebelverhangene Gotthard, dieser helvetische Sinai.

      Dass Max Frisch mit seinen Freunden Lucius Burckhardt und Markus Kutter zusammen für die erste Landesausstellung nach dem Krieg eine neue Stadt vorschlug, ein präzis gezieltes Gegensymbol, war auch der Versuch einer Umpolung der nationalen Zentralfantasie, und er scheiterte glorios. Es ist daher von einer verblüffenden Logik, wenn die stärkste nationale Symbolkraft heute vom neuen Eisenbahntunnel durch den Gotthard ausgeht. In diesem technischen Spitzenwerk verschmelzen wieder einmal Ursprung und Fortschritt, und sie setzen auch diesmal mächtige Gefühle frei.

      Dabei ist der Gotthard eigentlich kein sehr alter Pass. Die Römer und ihre Kultur kamen über die Bündner Pässe in das Gebiet der heutigen Schweiz. Auch Furka und Grimsel sind in Verbindung mit den Walliser Pässen die historisch ehrwürdigeren Übergänge. Was den Gotthard auszeichnet, ist nur die Nähe zur Landschaft der Gründungsgeschichte um den Vierwaldstättersee und die dramatische, vielbeschriebene Gefahrenzone der Schöllenenschlucht. Am seltsamsten aber erscheint, dass dieser exemplarische Berg gar kein Berg ist, sondern ein Sattel zwischen Bergen und also kein markantes Gesicht hat. Das Matterhorn kann man als plastische Gestalt zeichnen, auch die Jungfrau und den Pilatus, den Gotthard nicht. Auf Kollers Bild von der Gotthardpost wird dies zum eklatanten Ereignis. Der Gotthard erscheint als die blaue Lücke am oberen Bildrand, in der ein leichtes Wölkchen schwebt. Wo er wäre, wenn es ihn gäbe, ist nichts. Und trotzdem wurde er während des Zweiten Weltkriegs zum Inbegriff des Widerstandes, und die Mitrailleure, die dort Dienst leisteten, die «Gottertmitr», galten im Volk als die Elitetruppen der Schweiz. Die kollektive Fantasie geht ihre eigenen Wege, und wo nichts ist, kann sie auch dies zum Zeichen machen. Mythisches Potenzial hatte nur der Weg zum Gotthard. Goethe hat ihn mit vier Zeilen in dieser