Das ist symptomatisch. Denn die Literatur sucht, anders als die Ideologen und die Ingenieure, nicht den direkten Weg. Die literarische Gotthardpost fährt wissentlich gefährliche Umwege, setzt sich katastrophischen Bedrohungen und Widersprüchen aus, erkundet den Berg imaginär in sich verzweigenden Gedankenstollen, wählt das langsamere Verkehrsmittel statt des schnelleren. Das ist ihre Zumutung an den Leser, das ist ihr Eigenrecht. Dieses grundsätzliche Recht auf den Umweg sollte die Gotthard-Literatur weiterhin geltend machen. Dies erst recht, wenn die neue Direttissima von Erstfeld nach Biasca die alte Bergstrecke ihrerseits zum Umweg und zur poetischen Abschweifung hinein in die Gotthard-Gefahren machen wird.
Nora Gomringer
Door to Door
Ein Berg
Ein Übertritt
Eine Durchreiche
wie in einem Haus des letzten Jahrhunderts
vom einen Land zum anderen
hier die Sauciere, das Silber
immer erinnert an Heidis Besuch
im exotischen Frankfurt
(Herrenhaussituation)
hier die Fahrräder, hier die Autos
die Wagen voller Kraft
einer muss doch den Tisch decken
einer sollte bereiten
einer muss doch ans Licht
viele wollen hindurch
doch das Wetter am Berg
das kann keiner kennen
turns out: kennt keiner das Wetter
beim Eintritt, beim Austritt
Was der Berg alles zulässt
Durchschuss und Ameisenstrasse
Verschiedene Wege ans Licht
durchgereicht stehen wir alle
über und durch und
under the weather
August 2015
Unterwegs mit der Gotthardbahn um 1900
Die Kirche von Wassen und die Inszenierung von Landschaft
Daniel Speich Chassé
Dieser Beitrag handelt von der Reise mit der Eisenbahn über die Gotthardstrecke von der Zentralschweiz ins Tessin. Und es geht auch um eine Reise in die Vergangenheit. Ich möchte anhand der Gotthard-Strecke das Reiseerlebnis rekonstruieren, das sich vor etwa 130 Jahren auf der Fahrt durch eine imposante Landschaft eingestellt haben könnte. Dazu dient die Lektüre von drei Reiseführern. Die Technik – vor allem die Dampfmaschine – war im 19. Jahrhundert ein wichtiger Motor der Innovation. Sie hat die Produktion von Gütern in Fabriken ermöglicht, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital radikal verändert und die Bewegung im Raum revolutioniert. Das kam den Menschen damals neu vor, und sie protokollierten den Wandel in einer Fülle von Zeugnissen.
Nachdem im Jahr 1882 die Gotthardbahn eröffnet worden war, publizierten findige Unternehmer rasch viele Beschreibungen der neuen Strecke, die als ein Hilfsmittel für die Fahrgäste im Zug gedacht waren. Bereits im ersten Betriebsjahr 1883 benutzten über eine Million Reisende die neue Strecke, was alle Prognosen übertraf.1 Die Reiseführer dienten dazu, in der anbrechenden industriellen Moderne Sicherheit und Orientierung zu stiften. Dabei hat sich an der Nordrampe der Gotthardbahn etwas Seltsames ereignet: Ein katholischer Kirchenbau, der 1734 im Stil des Barocks fertiggestellt worden war, wurde zu einer Ikone der technischen Moderne.2 Die Kirche von Wassen ist eher zufällig zum Ankerpunkt der Reiseerlebnisse geworden. Auch ein Wasserfall oder eine spektakuläre Brücke hätten ihre Position einnehmen können. Die Kirche steht für die Verarbeitung des damaligen Schocks, der durch die moderne Technik ausgelöst worden war. Und die Kirche ist ein Fokus, in dem der Wandel der Landschaftswahrnehmung deutlich wird.
Jakob Hardmeyer 1888
Meine erste Quelle stammt von Johann Jakob Hardmeyer-Jenny, einem Sekundarlehrer und Kinderbuchautor aus Männedorf, der zahlreiche populäre Schriften über die Landschaft der Schweiz verfasste und viele Porträts von historischen Persönlichkeiten schrieb.3 Ab den 1880er-Jahren betreute er die Schriftenreihe «Europäische Wanderbilder» des Orell-Füssli-Verlags, zu der er selbst zahlreiche Titel beisteuerte. Er schrieb viel, unter anderem über den Zürich- und den Vierwaldstättersee, über Locarno und seine Seitentäler, über Lugano und über das Berner Seeland. Er schrieb auch über eine Reihe von Bahnen: 1888 über die Brünigbahn, 1889 über die Pilatusbahn, 1890 über die Monte-Generoso-Bahn und 1895 über die Seethalbahn.
Jakob Hardmeyers Reiseführer über den Gotthard muss ein grosser Erfolg gewesen sein. Die Schrift erschien ab 1888 in zahlreichen Auflagen und wurde hundert Jahre später, 1979, als Faksimile-Druck neu aufgelegt. Hardmeyer war in der bürgerlichen Welt der Vereine gut vernetzt und dokumentierte zum Beispiel auch eine «Sängerfahrt des Männerchor Zürich nach Mailand», die im April 1888 stattgefunden hatte. Und 1905 verfasste er im Auftrag der Bahngesellschaft einen kurzen Streckenbeschrieb für das breite Publikum mit dem Titel «Nach Italien mit der Gotthardbahn».4 Man kann ihn als den Erfinder der Gotthard-Reise sehen.
Im ersten Betriebsjahr der Gotthardbahn gab es zwischen Luzern und Mailand pro Tag drei Varianten mit dem Bummelzug, bei denen die Fahrgäste umsteigen mussten, und zwei direkte Schnellzug-Verbindungen. Der Fahrpreis betrug bis Mailand in der 1. Klasse 36.65 Franken und in der 3. Klasse 18.05 Franken. Das heisst, dass ein Textilarbeiter damals mehr als einen Wochenlohn für die Reise in der Holzklasse hätte aufwenden müssen, was er natürlich nicht tat. Die Fahrtzeit betrug von Luzern bis Mailand zehn Stunden. Ein Schnellzug fuhr in Luzern jeweils morgens um 10 Uhr los. Eine halbe Stunde später erreichte er Rotkreuz. Hier stiegen die Reisenden zu, die bereits am Vorabend zum Beispiel aus Berlin eingetroffen waren. Eine Stunde nach der Abfahrt in Rotkreuz erreichte der Zug Arth-Goldau, und gut zwei Stunden später, um 12.59 Uhr, traf er in Göschenen ein, wo es eine halbe Stunde Aufenthalt gab. Das war gerade genug Zeit, um im Bahnhofsrestaurant eine Mahlzeit einzunehmen. Die 55 Kilometer der Nordrampe wurden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 Kilometer je Stunde befahren. Die Fahrt durch den Tunnel dauerte von 13.25 bis 13.50 Uhr. Kurz vor 16 Uhr erreichte der Zug Bellinzona. Um 17.25 Uhr war er in Chiasso und um 19.41 Uhr in Mailand. Hier bestanden Anschlüsse nach Turin, Genua, Bologna, Florenz, Rom, Neapel und Venedig. Was haben die Fahrgäste zwischen Luzern und Mailand gesehen? Und welche Gefühle stellten sich möglicherweise bei ihnen ein, als sie diese Strecke befuhren?
Die Schaulust der Reisenden war in den Anfängen der Eisenbahnfahrt stark bedroht durch die Vernichtung der Aussicht aus dem mechanisch beschleunigten Vehikel. Auch wenn der Zug nur mit langsamen 25 Kilometer je Stunde fuhr, liess die dampfgetriebene Eisenbahn einen Gegensatz zwischen der Authentizität eines Ortes und dem schnellen, mühelosen Überwinden geografischer Distanzen entstehen. Der Erfahrungshorizont der Fahrgäste in der 1. Klasse war die Postkutsche, die zwar in hohem Tempo über den Pass fuhr, aber doch kaum mehr als zehn Kilometer je Stunde erreichte. Die Passagiere