Je rascher, je reibungsloser die Fahrt von Göschenen nach Airolo gelingt, desto mehr schwindet die Achtung für die zu dieser Bequemlichkeit erforderten und erbrachten Leistungen. Zu sinken droht auch die Aufmerksamkeit für das – zumindest nach traditionellem ästhetischem Verständnis – erhabene Naturspektakel, welches links und rechts der Trasse vorbeizieht oder nun eben unbemerkt liegenbleibt. Ausgedünnt würde durch den Gewöhnungseffekt nicht nur die Beachtung, welche die technischen Leistungen dieser Bahnstrecke verdienen, sondern auch der Respekt vor dem eigentlichen Kernstück und Wesen der Gotthardregion, somit auch vor den geschichtsmächtigen Innerschweizer Pass-Einrichtungen und ihrer Bedeutung für das eidgenössische Selbstbild.
Es ist Spitteler enorm wichtig, die Bedeutung des Gotthards für die Schweizer Geschichte nicht aus dem Blick zu verlieren, bildeten doch die ersten Erwähnungen dieses Passes im 13. Jahrhundert und der legendäre Ursprung der eidgenössischen Nationalgeschichte seit je eine merkwürdige, zu mythischer Identifikation förmlich einladende Koinzidenz. «Die Anfangsperiode des Gotthardpasses fällt mit der Zeit der Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft zusammen, und zwar auffallend genau zusammen»,11 hält der Alpen-Cicerone im historischen Teil seines Buches fest. Und er schraubt die Beziehung des zeitgleichen Auftritts dieser Phänomene – und damit natürlich auch die Dignität seines eigenen Gegenstands – noch eine Windung höher, wenn er hieran anknüpfend spekuliert: «Sollte vielleicht gar ein innerer Zusammenhang zwischen der Erschliessung des Gotthard und der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft obwalten?»
Was der zeitgenössische Bahnreisende mit solchen Überlegungen zur Supra-Semantik des Gotthards anstrebt, ist, mit Hans Blumenberg gesprochen, «Arbeit am Mythos». In methodischer Hinsicht war Spitteler freilich durchaus bewusst, aus welch unscheinbaren Anfängen dieser Zentralmythos seinen wirkungsgeschichtlichen Weg genommen hatte. Die früheste Erwähnung belegt, dass am 24. August des Jahrs 1230 auf dem Monte Tremolo ein Kirchlein geweiht wurde, im Namen und Zeichen des Hildesheimer Bischofs Godehard, den sich auch das Kloster in Disentis zum Schutzheiligen erkoren hatte.12 Jener Godehard war 1038 gestorben und 1131 heiliggesprochen worden, wobei seine mehreren Romreisen eine gewisse Rolle gespielt haben dürften, die ihn zum Namenspatron des Verkehrsweges über die Alpen prädestinierten. Die Bezeichnung Gotthard nahm über die Zeiten hin eine helvetische Färbung erst dadurch an, dass Ort und Name durch verklärende Deutungen überhöht wurden.
Passagen in Echtzeit
Carl Spitteler ist stilökonomisch versiert genug, um sein Reisebuch nicht mit bedeutungsschwerer Gotthard-Mythologie zu überfrachten. Nimmt man den Traditionspfad einer Verklärung des Berges zum Kern und Ursprung der Schweizer Geschichte als die eine mögliche Extremvariante der Darstellung, das völlig legere Vorübergleiten an diesem Geschichtsmassiv hingegen als die gegenteilige Option, so bewegt sich Spittelers Duktus angesichts dieser Alternative in einem unangestrengten, aber nicht spannungslosen Zwischenkorridor, gleich weit entfernt von beiden stilistischen Extremen. Nach der Auffassung Spittelers – die ich mit Begriffen der strukturalen Poetik reformuliere – verkörpert die Gotthard-Fahrt eine nicht etwa paradigmatisch geballte, sondern syntagmatisch gespreizte Form der Bedeutungsgebung, sie entspricht damit der metonymischen Bild- und Blickordnung des Interessanten. «Natur und Kunst», so verheisst der Autor vielversprechend, haben «längs des Weges eine lückenlose Reihe von grossartigen Landschaftsbildern» aufgestellt, «sodass von Luzern bis Como kein Fleck zu finden ist, der nicht bedeutend wäre, der nicht das Verweilen und die nähere Bekanntschaft lohnte».13 Ein Übriges habe nun noch die Eisenbahn selbst dazu gefügt und mit ihren technischen Behelfen «das Merkmal des Interessanten, das dem Gotthard ohnehin anhaftet, verstärkt».
Nicht mehr «erhaben» also, sondern «interessant»: die Streckenführung ist abwechslungsreich, nach vor- und rückwärts mit Veränderungen und Vergleichsmöglichkeiten gespickt und schafft dadurch eine reizvolle Abfolge. Die Wirkungsästhetik des Interessanten eröffnet sich bei dieser Bahnfahrt in einem Zusammenspiel von landschaftlich gereihter Sequenz zum ersten, subjektiver Beobachtung respektive Mitempfindung derselben zum zweiten sowie nacherzählender Beschreibungskunst zum dritten. Zur landschaftlich gereihten Sequenz wird die durchfahrene Gegend durch die räumliche Disposition der Schneisenbildung und den hierauf sich gründenden Bewegungsvorgang der Bahnfahrt; diese wird zum Fahrerlebnis durch den subjektiv beteiligten Beobachter, der das eigene Fortkommen als Vorübergleiten der Aussenwelt wahrnimmt. Durch die Zugfahrt wird die Landschaft mit einem Zeitvektor versehen, der sie in rasch aufeinanderfolgenden Stadien als herannahende, als gegenwärtige und als entschwindende dramatisiert – je überraschender, desto intensiver.
Nicht immer aber liebt es der Bahnreisende, völlig überrascht zu werden, denn es drohen ihm dadurch wichtige Aussichten und Anblicke zu entschlüpfen. Spitteler steckt deshalb besonderen Ehrgeiz in den Versuch, den Reisenden eine ausführliche und genaue, verständliche und verlässliche Beschreibung der Ausblicke und Situationen an die Hand zu geben, welche während der Fahrt zu gewärtigen sind. In welche Richtung die Gotthard-Fahrt angetreten werden soll, ist klar: Es zählt der Weg von Nord nach Süd, die zu erwartende doppelte Steigerung erst durch die beklemmende Bergwelt und sodann durch den Kontakt mit dem Tessiner Sonnenlicht. Für diese Lockungen der Fahrt kann das Büchlein immerhin ein «Vorausempfinden» herbeiführen, wie es auch der Gotthard seinerseits im Hinblick auf die Verheissungen «der jenseitigen Landschaft» darstellt.14 Aber schon die Frage, auf welcher Seite man sich niedersetzen und zum Fenster hinausschauen solle, ist Gegenstand ausgefeilter Ratschläge und Empfehlungen, die obendrein je nach Situation variieren. Der Kundige hat hier die Pflicht, den Neuling sorgsam vorzubereiten, ohne ihm zugleich auch schon die Freude des eigenen Entdeckens zu nehmen.
Als Wegbegleiter gibt Spitteler den Passagieren ein anschauungsreich ausgestaltetes Raumgefühl, das sogar schon auf Lektürereisende enorm suggestiv wirkt und das beim Gebrauch dieses Itinerars vor Ort noch einen stärkeren, fast magischen Effekt der Vergegenwärtigung ausübt. Indem er die Benennungen und Beschreibungen des Sichtbaren strikt an der Abfolge und Geschwindigkeit des Fahrerlebnisses ausrichtet, ermöglicht es Spitteler seinen Lesern, während der Fahrt einen an Anschauung und Erkenntnissen mitwachsenden Wahrnehmungsvorgang zu vollziehen. Hierzu dienen auch Erklärungen, die jeweils einen grösseren Zusammenhang oder geschichtlichen Entstehungsgrund einzelner Beobachtungen andeuten. So etwa sein Hinweis auf den sich ändernden Landschaftscharakter ab Flüelen. «Zunächst werden wir beobachten», so schreibt er, «dass die Mitte des Talbodens leer steht; die Niederlassungen haben sich links und rechts am Fusse der Berge gruppiert. Sie sind dem Gewässer ausgewichen, der Reuss und dem Schächenbach, welche früher in der Mitte des Tales ein unwirtliches Delta mit Geschiebe und Überschwemmungen bildeten.»15
Auf der weiteren Fahrt durch die Talschaft Uri lenkt Spittelers vorsorgliche Blickregie die Aufmerksamkeit des virtuell oder manifest mitreisenden Lesers. «Hinten über Altdorf, auf einem Hügel, genau in der Mitte der Berglücke, auf der Schwelle des Schächentales erhebt sich das anmutige Bürglen»;16 die Nennung der beiden aus der Tell-Sage bekannten Ortschaften modelliert sowohl das Landschaftsrelief der stufenförmig ansteigenden Bergflanke nach wie auch die Geschwindigkeit der an diesen Dörfern vorbeiführenden Zugfahrt. Und schon bald naht rechterhand wiederum die ebenfalls an Schillers Tell gemahnende Burgruine Attinghausen. Dies alles dränge, warnt der Reiseführer, «im engsten Raume zusammen, während der Schnellzug ohne jede Haltstation daran vorüberfliegt. Da sehe eben jeder zu, was er davon erhasche. Zum Schlummern oder Fahrplanstudieren jedenfalls ist hier ein schlecht gewählter Augenblick.»17
Spitteler rechnet mit geografisch wenig versierten, im Eisenbahnwesen noch unkundigen Lesern; er wird womöglich seine Schilderungskunst vor oder während der Niederschrift sogar an einigen Passagieren erprobt haben. Sie bewährt sich auch und gerade dann, wenn ein persönlich mitfahrender Reiseführer