Der Bau der Gotthardbahn ist in diesem Zusammenhang zu sehen: Einerseits ist der Gotthardtunnel selbst eine effiziente Massnahme, um den Alpenübergang vor den Naturgefahren zu sichern. Andererseits setzt die Bahn auf den Zufahrtsstrecken zum Scheiteltunnel die Reisenden und Güter, die sie nun in Massen in die Alpenwelt hineinsaugt, diesen Gefahren gerade aus. Gleichzeitig behauptet sie, dagegen alle nötigen technischen Vorkehrungen treffen zu können. Sie setzt also im Kampf gegen die Naturgefahren ganz auf den technischen Fortschritt. Dies wirft jedoch eine Reihe von Fragen auf: Wie verträgt sich dieser Triumph des Fortschritts mit den Gründungsmythen der Schweiz, die er eigentlich im Wortsinn unterminiert? Wird nun ein heroisches Techniknarrativ an die Stelle des militärisch geprägten Gründungsnarrativs gesetzt? Ist dieses Narrativ mit jenem gemeinschaftlich-solidarischen Sozialmodell kompatibel, das die Katastrophenkultur generiert? Welche Rolle spielen dabei die Alpen, der häufig personifiziert auftretende «Berg»? Ist er der älteste Verbündete der Schweiz, im Sinn des Réduits, oder der Gegner, den man mit der Technik besiegt?
Diese Widersprüche und Spannungen werden auch in der Literatur ausgetragen. Dabei werden sie nach aussen gestülpt, werden sichtbar und reflektierbar. Sie vermittelt diese Widersprüche an ihr Publikum, das ja meist im urbanen Flachland angesiedelt ist, und bindet dieses so zurück an die Alpenschweiz und ihre Katastrophenkultur, in die sie immer wieder abschweift. Ein erstes Beispiel dafür liefert Carl Spitteler. Er verfasst im Auftrag der Gotthardbahngesellschaft 1896 das Buch Der Gotthard – der erste bekannt gewordene Reklameauftrag an einen Schweizer Schriftsteller.7 Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert, von denen nur der erste den Auftrag direkt reflektiert: «Mit der Eisenbahn» und «Zu Fuß». Der Fahrt mit der Gotthardbahn, in deren Auftrag Spitteler ja schreibt, wird die archaische Fusswanderung in der Gotthard-Region gegenübergestellt, die den dichterischen Journalisten erst richtig an die harte Natur und ihre archaischen Gefahren heranführt. Fast wie die Gartenlaube beschwört Spitteler herauf, wie eine Fahrt über den Pass früher eine «dreitägige Schlacht des wehrlosen Menschen mit der Natur, die heimtückisch aus dem Hinterhalte droht» (S. 145) gewesen sei. Diese Bedrohung ist auch durch die Eisenbahn nicht gelöscht: Im Zentrum des Buchs rückt ein erstaunlicher Exkurs über das 1895 von einer Lawine verschüttete Airolo die Naturgefahren ganz dicht an die neue Bahnstrecke und an den Leser heran.
Gegenüber diesen breit ausgemalten Katastrophenszenarien bleibt Spitteler beim Gotthardtunnel selbst erstaunlich wortkarg. Ja, die «erhabenste Tunnelnacht» scheint sich kaum zu unterscheiden von einer banalen «Kellernacht». Kein Gedanke an die heroischen Erbauer des Tunnels, wie man sie später auch literarisch immer wieder feiern wird. Um sich selbst Angst zu machen, und damit die Tunnelquerung doch noch zu einem Ereignis würde, muss man sich schon eine Katastrophe imaginieren:
«‹Was geschähe jetzt, wenn jetzt –? Eine Entgleisung mitten im Tunnel zum Beispiel –› oder, wie jene Bäuerin meinte, ‹wenn sich der Zug unter der Erde ‹verirrte›, so daß er statt nach Italien gegen Österreich führe und unterwegs stecken bliebe, daß man ihn ausgraben müßte wie der Dachs in der Höhle?›» (S. 44)
Eigentlich hat der Tunnel die Schrecken des Berges beseitigt. So braucht es eine schon dichterische Fantasie, ein «Was wäre wenn …», um dem Tunnel-Thema noch neue Schrecken abzugewinnen. Friedrich Dürrenmatt wird dieses Szenario 60 Jahre später in seiner Novelle Der Tunnel zu Ende denken, in der ein Zug aus der helvetischen Fahrplan-Topografie heraus dem Erdinnern entgegenstürzt. Eine andere fantastische Abzweigung wird Hermann Burger wählen, die sogar nach Österreich führt. Jedenfalls scheint der Banalität des Tunnelerlebnisses nur eine Katastrophenfantasie beizukommen, mit der jedoch auch Spittelers Text selbst definitiv von seinem Auftragsgleis abkommen würde.
So taucht der Text die Gotthardbahn trotz allen guten Reklamevorsätzen in ein merkwürdiges Zwielicht: Sie führt uns zwar elegant ins Herz der Gotthard-Landschaft hinein, doch droht sie mit den alpinen Gefahren auch deren besondere Erlebnisqualität zu beseitigen. Darum sucht der Text imaginativ die Faszination der Katastrophe, ohne aber deren Solidaritätskontribution zu verlangen. Ohnehin kommen in Spittelers Text keine schweizerisch-nationalen Gefühle auf, wie sie 50 Jahre später beim gleichen Thema obligatorisch wären. Im Gegenteil: Auf dem Gotthard weiss man sich «mehr in Europa als überall sonst.» (S. 12) Euphorisch wird Spitteler nur, wenn er jenen Süden heraufbeschwört, den man dank dem Tunnel nun schneller erreicht.
Die Alpen dagegen haben für Spitteler letztlich keinen Eigenwert. Das sagt er in diesem Buch aber nicht explizit. Nur seinem Freund Joseph Viktor Widmann schreibt Spitteler:
«Ich hasse im Grunde die Berge, weil sie kälten und dem Himmel, also der Lichtkugel Stücke wegfressen, den Horizont verringern […]. A propos Gotthard u. meine alpine Natur: meine Lieblingsphantasie ist jetzt, den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen auf die andere Seite, gegen Norden, damit wir italiänische Luft direct bekämen.»8
Als Tunnelbauer eigenen Rechts hantiert hier der spätere Nobelpreisträger ganz unbefangen mit jenem Gedankendynamit, das ihm nur als Dichter in unbegrenzter Menge zur Verfügung steht.
Die Heroen der Technik und das helvetische Kollektiv
Der Gotthard fliegt jedoch nicht in die Luft, im Gegenteil: Nach der Eröffnung der Bahnstrecke wird er gar militärisch befestigt, und gleichzeitig wächst er zum Zentralmassiv des eidgenössischen Selbstbehauptungswillens heran. Die Gotthardbahn wird nach 1909 nicht nur materiell, mit der Eingliederung in die «Schweizerischen Bundesbahnen», sondern ebenso ideologisch nationalisiert. Auch die Dichter des 20. Jahrhunderts arbeiten auf dieser neuen geistigen Gotthard-Baustelle.9 Sie re-inszenieren den Bau des Tunnels, dessen Eröffnung man 50 Jahre zuvor (im Jahr 1932) feierte. Im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung wird der Tunnelbau zur nationalen Gründungstat umgedeutet. Dabei entstehen allerdings Spannungen zwischen dem modernen Technikdiskurs und der mythischen Gründungsgeschichte wie auch zwischen dem heroischen Einzelnen und dem Kollektiv. Doch auch dafür liefert – so die bestehende These – die helvetische Katastrophenkultur eine vermittelnde Matrix.
Dies zeigt sich zunächst an dem wirkungsmächtigen Jugendbuch von Robert Schedler Der Schmied von Göschenen. Eine Erzählung aus der Urschweiz für Jung und Alt, das zwischen 1920 und 1971 elf Auflagen erlebt.10 Der jugendliche Titelheld schart mit seinem Projekt, die Schöllenenschlucht durch den «stiebenden Steg» begehbar zu machen und dadurch den Gotthard zu erschliessen, die ganze Talschaft hinter sich. Er ist der erste Technikheld der Schweiz, ein Tell mit Amboss statt mit Armbrust, der in der Schöllenen die neue Willens- und Solidargemeinschaft zusammenschmiedet. Als solcher ist er auch ein impliziter Vorläufer von Louis Favre, dem Ingenieur des Gotthardtunnels. Dieser rückt ins Zentrum weiterer Gotthard-Romane, am entschiedensten im Roman des Österreichers Oskar Maurus Fontana Der Weg durch den Berg: Ein Gotthard-Roman, der 1936 in Wien erscheint.11 Favre kämpft hier als heroischer Einzelner nicht nur gegen die Naturgefahren, sondern auch gegen die Widerstände aus der Bevölkerung. Felix Moeschlin scheint als Schweizer darauf zu antworten: Mit dem monumentalen Roman Wir durchbohren den Gotthard (1947/49) gibt er jenem «Wir» seine Stimme, das allein den Gotthard bezwingen könne.12 Auch wenn dieses Kollektiv wesentlich aus italienischen Tunnelarbeitern besteht, rückt der Bahnbau so ein in die alten Strategien des kollektiven helvetischen Kampfs gegen