Eisenbahnfahrten waren im ausgehenden 19. Jahrhundert mit einer tiefgreifenden Sinnesverwirrung verbunden. Der Dichter Heinrich Heine schrieb 1843 anlässlich der Eröffnung der Linien von Paris nach Rouen und Orléans: «Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unsrer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden.»5 Unter den Bedingungen des industrialisierten Transports war das Landschaftserlebnis, das die wandernden, reitenden oder kutschenfahrenden Reisenden bisher gekannt hatten, technisch versperrt. In der Eisenbahn waren die Fahrgäste mit dem sie umgebenden Aussenraum nur noch visuell verbunden – doch zu sehen gab es für sie eigentlich nichts. So legt ein anonymer Text aus dem Jahr 1844 nahe: «Beim Reisen in der Eisenbahn gehen in den meisten Fällen der Anblick der Natur, die schönen Ausblicke auf Berg und Tal verloren oder werden entstellt.»6
Die Geschwindigkeit produzierte eine spürbare Verschiedenheit zwischen dem Raum-Zeit-Gefüge im Inneren des Wagens und jenem in der Aussenwelt. Dadurch verlor das Zugfenster seine Fensterfunktion: Es stellte keine Verbindung zwischen Innen und Aussen mehr her, sondern war nur noch ein Loch hin zu einer anderen Dimension, die sich zunächst nicht strukturieren liess. Man sah nichts, oder zumindest nichts, das sich sinnvoll auf den Innenraum hätte beziehen lassen. Hingegen wurde das Innere der Wagen zu einem neuen öffentlichen Raum, der durch Verhaltensregeln organisiert werden musste. Neben dem Lesen, das sich in den Abteilen der 1. und 2. Klasse schnell etablierte, wurde auch das Betrachten der vorbeiziehenden Landschaft bald zu etwas Anständigem. Man las im Reiseführer und schaute zum Fenster hinaus. So wurde es den im Zugabteil zufällig zusammengewürfelten Personen möglich, mit der intimen Nähe zueinander umzugehen.7 Am Fensterplatz gab es zwar weniger zu sehen als vom Maultier aus oder von der Kutsche. Aber die Geschwindigkeit der Bahn führte dem Fahrgast die Welt wie in einem Panorama vor Augen. Die Eisenbahn bot eine effektvolle Reduktion auf die Totale. Die Sicht aus dem Zugfenster, so schrieb ein französischer Beobachter in den 1860er-Jahren, «zeigt Ihnen lediglich das Wesentliche einer Landschaft. […] Verlangen Sie keine Details von ihr, sondern das Ganze, in dem das Leben ist.»8 Die Landschaft wurde zum Strich, in dem einzelne Punkte in Szene gesetzt werden mussten – wie zum Beispiel die Kirche von Wassen.
Jakob Hardmeyer baute im Jahr 1888 auf der Sinnesverwirrung seines Publikums auf und setzte gezielte Orientierungspunkte. Dabei sticht der Streckenabschnitt um Wassen hervor, weil hier ein bedeutendes Stück Steigung durch Kehrtunnels überwunden werden musste. Hardmeyer schrieb:
«Am Fusse des Wassener Kirchhügels überschreitet die Bahn die aus einer grossartig wilden Schlucht hervorschäumende Maienreuss (zum ersten Mal), unterfährt den Kirchhügel, geht südwärts der Reuss entlang, überschreitet sie auf einer Brücke und unweit des Dörfchens Wattingen verschwindet sie im rechtsseitigen Berghang. Es beginnt der Wattingerkehrtunnel, […] Sich nordwärts wendend, geht sie hinter dem Dorfe Wasen und seiner Station in nördlicher Richtung thalauswärts und überbrückt die Maienreuss wieder (zum zweiten Male). Sie hält die nördliche Richtung immer noch ein, um sie im sogenannten Leggisteinkehrtunnel mit der südlichen zu vertauschen. An der Maienreussschlucht tritt sie an’s Tageslicht und überspringt dieselbe auf prachtvoll situierter Brücke (zum dritten Mal), mehr als 100 Meter über dem ersten Übergang.»9
Der Reiseführer unterstellte eine Überforderung der Reisenden und lieferte eine Blickanleitung:
«Der Reisende, der kein Plänchen zur Hand oder keinen Ingenieur an seiner Seite hat, verliert in Folge der nach allen Richtungen gehenden Fahrt vollständig seinen Kompass. Der Wendungen, die der Zug macht, wird er kaum gewahr, da sie drinnen im dunkeln Schosse der Felsen erfolgen. Es scheint ihm, er komme nicht von der Stelle, denn immer wieder sieht er die Wasener Kirche, – über sich, hinter sich, vor sich, neben sich und unter sich[…]. Erst dann, wenn er über dem Dorfe Wasen am Bergabhang dahin fährt …, findet er sich wieder zurecht. Wie ob einem gewaltigen Siege jubeln oft an dieser bewundernswertesten Stelle der Bahn die staunenden Insassen des dahinsausenden Zuges laut auf.»10
Seit den 1880er-Jahren haben Generationen von Fahrgästen auf die Kirche des kleinen Ortes Wassen geschaut, so wie es Jakob Hardmeyer vorschlug.
Carl Spitteler 1897
Im Jahr 1897 erschien ein Streckenbeschrieb aus der Feder des Schriftstellers Carl Spitteler. Ihm war dieser Text über den Gotthard eher peinlich. Es handelte sich um eine Auftragsarbeit für die Betreibergesellschaft der Bahnstrecke, die das Büchlein als Marketing-Gag in die Bibliotheken aller Ozeandampfer gab. Spittelers Schrift hat so die Elite der entstehenden Weltgesellschaft gut auf den Gotthard aufmerksam gemacht. Sie war randvoll mit kulturhistorischen Betrachtungen und stellte die alte Kutschenfahrt auf der Gotthardstrecke der neuen Eisenbahnfahrt entgegen. Spitteler machte sich ganz fein über den Fortschrittsglauben seiner Zeit lustig. Er schrieb zu dem Streckenabschnitt um Wassen:
«Von Gurtnellen an ist es weniger die Grossartigkeit der Natur als diejenige der Bahnkonstruktion, welche die Aufmerksamkeit beansprucht. Nicht zwar, dass es an Naturschönheiten gebräche; wie wäre das auch überhaupt am Gotthard möglich?[…] Allein die Überraschungen treten von nun an nicht mehr in fortlaufender Kette, sondern vereinzelt in längeren Zwischenräumen auf. Dazu kommt die Verwöhnung der Aufnahmefähigkeit. Denn diese hat Grenze; sie heisst Ermüdung[…]. Was nun die berühmten Kehrtunnels betrifft, soll ich die tausendundeinmal beschriebenen zum tausendundzweiten Mal beschreiben? Die verblüffenden Wurmwindungen der Fahrt? Das rastlose Hin- und Hersuchen der Lokomotive talauf und talab, als hätte sie ihr Schnupftuch verloren?[…] Das verwunschene und verwünschte Kirchlein von Wassen, das mit uns Fangmaus spielt, jetzt uns mit wehmütigem Scheidegruss nachblickend, um ein Viertelstündchen später uns unversehens den Kirchturm entgegenzustrecken, spöttisch und triumphierend: ‹Ich bin schon da!›»11
Spitteler wusste, dass die Arsenale der touristischen Anziehungskraft in der mittelalterlichen Geschichte, in den kulturellen Traditionen und in der Erhabenheit der Landschaft lagen, und er bediente die Erwartung seiner Leserschaft gekonnt. Touristen wollen die originalen Schauplätze der historischen Ereignisse besuchen, unverbrauchte traditionelle Lebensformen kennenlernen oder spektakuläre Landschaften geniessen.12 Gerade der Gotthardpass ist seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert als ein Ort von einmaliger Kraft beschrieben worden. So hielt zum Beispiel der Dichter Wilhelm Heinse in den 1780er-Jahren in seinem Tagebuch über das Gefühl auf der Passhöhe fest: «Ich habe den Anfang und das Ende der Welt gesehen […] Dies Anschauen war das Anschauen Gottes, der Natur ohne Hülle, in ihrer jungfräulichen Gestalt.»13 Solche literarischen Zeugnisse vom Gotthard sind vielfach überliefert.14
Oft ist die Mühsal des Zugangs zu den bedeutsamen Orten wie der Schöllenenschlucht oder der Passhöhe des St. Gotthard als wesentlicher Teil ihrer Ausserordentlichkeit betrachtet worden. Bequem in der Bahn zu ihnen zu reisen, galt als unzulässig. Als beispielsweise in den 1890er-Jahren das Projekt einer Jungfraubahn diskutiert wurde, stand umgehend die Frage im Raum, ob durch die technische Erschliessung der «Nimbus des Berges» zerstört werde.15 Mit den Alpenbahnen ging eine tiefgreifende Landschaftsveränderung einher. Das neue Transportmittel passte sich den landschaftlichen Verhältnissen dadurch an, dass es diese nach rein technischen Notwendigkeiten umgestaltete und vereinheitlichte. Das dominierende Prinzip des Streckenbaus war dabei die gerade Linie. Wo Hügel und Berge die relativ geringe Traktionsstärke der Lokomotiven zu einem Problem werden liessen, bohrte man Tunnel, grub Einschnitte oder schüttete Dämme auf. Ein neuartiges Instrumentarium der Trassenbaukunst entwickelte sich, dem es bald gelang, die nur schwer reduzierbaren Kurvenradien auch in engen Tälern zu platzieren.16 Zwischen die natürlich gewachsene topografische Form und den mobilen Aufenthaltsraum der Fahrgäste schob sich ein Gefüge von geometrischen Elementen, das die Eisenbahnfahrt gewissermassen vom lokalen Boden abstrahierte.
An der Eisenbahn entzündete sich eine Debatte über den vermeintlichen Verlust des ästhetischen Genusses. Das geschah vor dem Hintergrund eines etablierten Kanons standardisierter Sehenswürdigkeiten, die unter den neuen Transportbedingungen nicht mehr in der klassischen Art konsumierbar waren. Die Eisenbahn brachte ein funktionierendes Wahrnehmungssystem in Unordnung. Die alten